Der Angst vor Fremden mit Wissen begegnen

Interkulturelle Kompetenz ist der Schlüssel zum Erfolg in neuen Märkten.

Die Nachfrage aus den traditionellen Märkten – speziell aus den Nachbarländern – stagniert bekanntermassen. Neue, meist weiter entfernte Quellmärkte wie die Länder Asiens, Südamerikas oder im Mittleren Osten werden für den Schweizer Incoming- Tourismus, ob Leisure oder MICE, immer interessanter und wichtiger. Sie sind die neuen Heilsbringer, wenn es um die Zukunft der Schweizer Tourismuswirtschaft geht.

Die Bearbeitung dieser Märkte und die Betreuung der in die Schweiz reisenden Kunden ist jedoch äusserst anspruchsvoll. Ganz unterschiedliche Kulturen, Lebensweisen, Umgangsformen und Wertvorstellungen treffen hier aufeinander. Den Werten und Eigenheiten der traditionellen Märkte in der Nachbarschaft hat man sich über Jahrzehnte angenähert. Die gesellschaftspolitischen
Unterschiede sind vergleichsweise minim. Nun ist die Schweizer Tourismuswirtschaft gefordert, sich mit den kulturellen Unterschieden in den neuen Märkten auseinanderzusetzen.

Der Gap ist zuweilen gross und so wie es Unterschiede zwischen Mann und Frau gibt, so gibt es auch Unterschiede zwischen Ländern und Kulturen. «Wir glauben immer, alle hätten die gleiche Brille auf, die gleiche Betrachtungsweise wie wir. Das stimmt nicht, denn jede Kultur sieht die Welt durch eine andere Brille und hat damit auch eine unterschiedliche Wahrnehmung», erklärt Dr. Ursula Gehbauer Tichler im Gespräch mit MICE-tip. Sie ist die Gründerin der Interculture GmbH und war bis anfangs 2014 Rektorin der Swiss School of Tourism and Hospitality in Passugg. Interkulturelle Kompetenz ist für Gehbauer der Schlüssel zum Erfolg in den neuen Märkten: «Man braucht Grundlagen, Wissen und Kompetenz, um zu entscheiden, welche Märkte man bearbeiten möchte. Auch die Frage, ob es Anpassungen bei Produkt, Angebot und Infrastruktur braucht, ist entscheidend. Bis hin zur Frage, wie man Mitarbeiter auf die Bearbeitung dieser Märkte vor Ort und die Betreuung der Gäste aus diesen Quelldestinationen hier in der Schweiz vorbereitet. Je mehr wir wissen, desto sicherer werden wir und können mit neuen Unsicherheiten, die im täglichen Geschäft immer wieder auftreten, viel besser umgehen. Interkulturelle Kompetenz steigert die Marktchancen. Man muss vorbereitet sein auf neue Märkte und neue Kunden.»

«Dos and Don’ts»
Nicht immer einfach, denn Gehbauer gibt zu bedenken, dass die Unterschiede teilweise gross sind. Dabei gilt es, beispielsweise den unterschiedlichen Umgang mit Hierarchie zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden oder innerhalb einer Familie zu berücksichtigen wie auch die Art des Handelns. So werden in der Schweiz gemäss einer Studie Herausforderungen eher linear-aktiv, also step-by-step, angegangen. In Südamerika, der arabischen Region oder auch in Indien hingegen wird mehrheitlich multi-aktiv gearbeitet, also mehrere Dinge werden gleichzeitig in Angriff genommen, was für Schweizer oft chaotisch wirkt und uns überfordert. Der Schweizer Art kommt noch am ehesten die reaktive Handlungsweise, wie sie z. B. in Japan zu beobachten ist, entgegen, bei der Besonnenheit und Zuhören im Vordergrund stehen. Einen Einfluss hat zudem die Lebensform, die entweder individualistisch oder dann kollektiv zu ganz anderen Vorlieben führt. Daraus abgeleitet lässt sich ein Katalog von «Dos and Don’ts» erstellen, der für die Auseinandersetzung mit der fremden Kultur als gutes Hilfsmittel dienen kann.

Interkulturelle Seminare
Um im Bereich der interkulturellen Kompetenz ein Fundament zu schaffen,
auf dem man aufbauen kann, sollte man laut Gehbauer interessiert und empathisch sein und versuchen, mit dem Gegenüber eine Beziehung aufzubauen. Für Nahmärkte fällt das leichter, da sie mit unserer Kultur kompatibler sind als Fernmärkte. Dazu erklärt Gehbauer: «Die Schweiz hat sich eine gewisse Kernkompetenz im interkulturellen Dialog erarbeitet. Wir sollten an diese guten Voraussetzungen anknüpfen und step-by-step unsere Kompetenzen über die neuen Märkte erweitern, um konkurrenzfähig zu bleiben.»

Die Schulung auf allen Ebenen – von den strategischen Entscheidungsträgern bis hin zur Basis – ist für Gehbauer von immenser Bedeutung. «Interkulturelle Seminare sind dringend nötig, nur fehlt es in der Tourismusbranche an Geld. Mein Ziel ist ein Kompetenzzentrum für interkulturelle Fragen im Tourismus, mit Hotline, Seminaren und abgestützt auf einem Expertennetzwerk. Dieses Kompetenzzentrum, unterstützt durch Branchenverbände und öffentliche Gelder, könnte auch auf weitere Wirtschaftszweige ausgedehnt werden. Bis jetzt wird Interculture durch Schweiz Tourismus, Hotelleriesuisse und Switzerland Global Enterprise als Mitglieder im Beirat unterstützt. Nur schon der volkswirtschaftliche Nutzen wäre Grund genug, in diesem Bereich etwas vor allem auch finanziell breit Abgestütztes aufzuschienen. Ich werde dieses Ziel jedenfalls weiter verfolgen.»

«Gastfreundschaft» ist eigentlich ein Paradox
Mit dem Wort «Gast» ist ursprünglich der Fremde gemeint, mit «Freund» hingegen das eng Vertraute, wie etwa die Familie. «Gastfreundschaft» ist also der Versuch , einen Fremden wie die eigene Familie zu empfangen und zu betreuen. So gesehen ist das Wort «Gastfreundschaft» laut Dr. Ursula Gehbauer eigentlich ein Paradox. Der Mensch hat grundsätzlich Angst vor Fremdem und Neuem. Doch der Tourismus ist ein wichtiger Faktor für die Schweizer Volkswirtschaft, so dass wir verpflichtet sind, uns dem Fremden und Neuen zu öffnen, um im Tourismus weiterhin erfolgreich agieren zu können. Durch die Globalisierung können immer mehr Menschen – auch aus Schwellen- und Drittweltländern – reisen. Das wird den Druck erhöhen, sich interkulturelle Kompetenz anzueignen.
Nur so könne sich die Schweiz auch weiterhin erfolgreich im weltweiten Tourismus behaupten, ist Gehbauer überzeugt.

Dieser Artikel ist 2013 im MICE-tip erschienen.