Leistungslust statt Leistungsfrust

Mythos Stress – Daten und Fakten. Die Gleichung «viel Arbeit gleich viel Stress» und «wenig Arbeit gleich wenig Stress» geht nicht auf.

«Bloss keinen Stress!» Dieses Stossgebet scheint aktuell in aller Munde zu sein. Aber ist das auch sinnvoll? Neuste Erkenntnisse sagen «nein». Stress ist auch Motivator, er setzt Energien frei und pusht uns zu Höchstleistungen. Ein gesunder Umgang mit Stress ist viel mehr als nur Entschleunigung − und er ist lernbar. Nach einem meiner Vorträge kam ein Eventmanager zu mir und sagte: «Entschleunigung funktioniert im Alltag schlecht. Ich habe gerade einige arbeitsintensive Events hinter mir und wollte ein bisschen langsamer treten. Jetzt habe ich eine Anfrage von einem Weltmarken- Getränkehersteller bekommen, eine einmalige Chance. Was raten Sie mir?» Wie würden Sie entscheiden? Dieser Eventmanager hat den Auftrag angenommen, und ich kann das absolut nachvollziehen. Ob er dadurch gestresster war? Nicht unbedingt. Die Gleichung «viel Arbeit gleich viel Stress und wenig Arbeit gleich wenig Stress» geht keinesfalls auf. Stress selbst ist keineswegs nur negativ zu sehen. Stress ist zunächst eine ganz normale Reaktion unseres Körpers, eine Kampf- oder eine Fluchtreaktion. Er kann zusätzliche Kräfte freisetzen und uns zu Bestleistungen in Arbeit und Freizeit anspornen. Hierdurch bekommen wir positive Rückkopplung, Erfolgsbestätigung sowie Glücksgefühle. Doch der Stress kann auch kippen − in den so genannten
Disstress. Dieser negative Effekt tritt auf, wenn wir uns dauerhaft überfordert fühlen.

Ansporn oder Überforderung?
Unser Stressempfinden ist ein höchst subjektives Gefühl. Woran liegt es, dass eine Arbeitsaufgabe uns überfordert und auslaugt, eine andere uns hingegen aber anspornt und beflügelt? Welche Faktoren bestimmen unser Stressempfinden und wie können wir diese beeinflussen? Das individuelle Stressempfinden hängt hauptsächlich von acht Faktoren ab:

• Arbeitsaufgabe
• Führungsverhalten
• Gratifikation/Wertschätzung
• Individuelle Voraussetzungen
• Arbeitsorganisation
• Soziale Beziehungen
• Arbeitsumgebung
• Situation

Diese acht Faktoren haben einen eindeutigen Einfluss auf die individuelle Beanspruchung des Einzelnen. Das erklärt, warum Menschen bei gleichen Umgebungsvoraussetzungen und gleicher Arbeitsmenge subjektiv eine unterschiedliche Beanspruchung empfinden können. Durch die Gestaltung dieser acht Faktoren kann gleiche Arbeitsaufgabe zu Ansporn und positivem Stress, sogenanntem Eustress, oder Überforderung bzw. Disstress führen.

Gesunder Umgang mit Stress
Die zentrale Botschaft lautet: Gesunder Umgang mit Stress ist prinzipiell lernbar. Eine der Voraussetzungen für einen gesunden Umgang mit Stress ist auch eine gewisse zeitliche Begrenzung. Wir brauchen zwischendurch Zeit, um positive Erlebnisse mit den Menschen, die uns wichtig sind, zu teilen und unsere Akkus wieder aufzuladen. Wie viel Zeit wir dafür brauchen, ist individuell unterschiedlich. Wichtig ist, dass wir nicht dauerhaft das Gefühl von Disstress haben − das überfordert unseren Körper, unsere Seele und kann negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit sowie unsere sozialen Beziehungen haben.
Zwei wesentliche Bausteine im Sinne der Stressminimierung sind auch Führungsverhalten und Gratifikation/ Wertschätzung. Diese beiden Faktoren sind eng miteinander verwoben und haben einen wesentlichen Einfluss auf das Arbeitsergebnis und den Gesundheitszustand.
In vielen Studien sind die Zusammenhänge zwischen Herz-Kreislauf- Erkrankungen sowie Depressionen und dem Auftreten von Gratifikationskrisen belegt. Gratifikationskrisen entstehen, wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihre Entlohnung und ihr eingesetztes Engagement nicht in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen.

Gratifikation ist nicht nur Geld
Prinzipiell besteht Gratifikation aus drei Säulen:

• Finanzielle Entlohnung
• Qualifikationsmöglichkeiten
• Anerkennung

Diese drei Säulen können sich bis zu einem gewissen Grad gegenseitig ausgleichen. Gratifikation bedeutet somit keineswegs nur Geld − im Gegenteil, ab einem gewissen Einkommen ist dieses nachweislich nur ein begrenzter Motivator. Die Schlüsselfunktion stellt zweifelsfrei die Anerkennung dar, sie hat die höchsten Effekte auf die Motivation und die grösste Nachhaltigkeit. Eine wichtige Rolle spielt hierbei auch das Führungsverhalten. Eine optimierte Führung und individuelle Mitarbeitermotivation spielen bei der Vorbeugung psychischer Fehlbelastungen eine zentrale Rolle und sind zugleich zwei der wichtigsten Faktoren für ein erfolgreiches Unternehmen.

Steigerung der Effektivität
Auch die Führungskräfte selbst befinden sich im Spannungsfeld zwischen Zeitdruck, betrieblichen Anforderungen und Kundenorientierung. Aktuelle Erkenntnisse der Neurowissenschaft haben zu einem neuen Ansatz in der Strukturierung und Optimierung von Arbeitsabläufen geführt. Durch gehirngerechte Strukturierung und Arbeitsorganisation können bei demselben Arbeitspensum die Effektivität und Qualität deutlich gesteigert werden.
In unserer Zeit − die gekennzeichnet ist durch zunehmende Arbeitsverdichtung, Informationsflut und Globalisierung − ist der gesunde Umgang mit Stress von zentraler Bedeutung. Im Rahmen der Stressprävention stellen die Berücksichtigung typischer menschlicher Verhaltensweisen und der sinnvolle Umgang mit den oben genannten Faktoren einen wesentlichen Beitrag zu der Gestaltung eines leistungsfähigen und glücklichen Lebens dar.

Die Autorin:
Manuela Jacob-Niedballa
Dr. med. Manuela Jacob-Niedballa ist Expertin für positiven Umgang mit Stress und Prävention von Burnout sowie menschengerechte Führung. Die Fachärztin für Arbeitsmedizin beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit den Einflüssen von Beruf und sozialen Beziehungen auf die Gesundheit. Dr. Manuela Jacob-Niedballa bietet in ihren Vorträgen und Seminaren Lösungswege aus der Stressfalle und praxiserprobte Beispiele für optimierte Führung. Mehr unter www.jacob-niedballa.de