Martin Wittwer: «Das traditionelle Geschäftsmodell liegt auf dem Sterbebett» (Ausgabe 2010-44)

Der CEO von TUI Suisse äussert sich zu Margendruck und sich ändernden Geschäftsmodellen, skizziert die von Vergleichsportalen ausgehende Gefahr und erklärt die Individualreisen-Strategie von TUI Flex Travel.

Herr Wittwer, am 30. September ging für TUI Suisse das Geschäftsjahr 2009/10 zu Ende. Bewahrheitet sich Ihr erwartetes Umsatzminus von sechs Prozent?

Wir schliessen das Geschäftsjahr im Rahmen unserer Erwartungen voraussichtlich leicht besser ab. Im Sommerhalbjahr lagen die Ergebnisse von Tour Operating und Vertrieb über Vorjahr; insgesamt war der Sommer prozen-tual gut einstellig im Plus. Die Delle entstand noch im letzten Quartal 2009.

Schrieb TUI Suisse im abgelaufenen Geschäftsjahr 2009/10 Gewinn?

Wir liegen auf Budgetkurs und haben einen Gewinn geplant.

TUI Suisse ist die Nr. 3 in der Schweiz. Wie nahe ist die Position der Nr. 2?

Umsatzmässig sind wir die Nr. 3. Den Umsatz jedoch können wir nicht zur Bank bringen, nur den Ertrag. Und ertragsmässig müssen wir uns im Vergleich sicher nicht verstecken. Unser Ziel ist nicht, so schnell wie möglich umsatzmässig zur Nr. 2 und zur Nr. 1 aufzurücken. Wir wollen eine grundsolide Ertragsbasis schaffen, um jene Rendite zu generieren, die ein gesundes Tourismusunternehmen mittel- und langfristig braucht.

Welche Bereiche waren Wachstumsmotoren und welche bremsten?

Deutlich zugelegt haben wir im Individualreisegeschäft sowie mit der Preisbrechermarke 1-2-Fly. Stagnierend bis rückläufig waren die Pauschalreisen der Marken TUI und Vögele Reisen. 

Spürten Sie erhöhten Margendruck?

Die Margensituation blieb für uns mehr oder weniger stabil. Einen Zerfall erlebten wir in keinem der oben genannten Bereiche, im Gegenteil: Bei den Pauschalreisen sind die Margen gegenüber dem Vorjahr leicht höher. Generell ist es jedoch so, dass die Marge im Individualgeschäft tendenziell unter Druck gerät, vor allem durch das Internet. Unsere Margensituation ist – wie ich schon seit Längerem betone – im europäischen Umfeld nicht realistisch. Der Konsument wird im Internet mit ganz anderen Preisen konfrontiert, als wir sie bieten. Das baut Druck auf. Wir Schweizer TOs sind mit unseren Preisen im Pauschalreisegeschäft auf ein europäisches Niveau gesunken, im Individualreisegeschäft aber liegen wir noch darüber.

Werden die Margen im Pauschalreisegeschäft weiter sinken?

In diesem Bereich haben wir das Niveau des deutschsprachigen Raumes erreicht. Darin wird die Marge zum grössten Teil über die Kapazität und in der Folge über die Auslastung definiert. TUI Suisse verzeichnet jedes Jahr eine hervorragende Auslastung; im abgelaufenen Geschäftsjahr lag sie bei rund 94 Prozent. Mit einer so hohen Aus-lastung und lediglich sechs bis sieben Prozent Last-Minute-Verkäufen sollte die Marge nicht mehr weiter in den Keller sacken. Sie wird aber auch nie mehr auf das Niveau von vor fünf oder sechs Jahren steigen.

Welchen Einfluss haben die Wechselkursschwankungen auf das Geschäft von TUI Suisse?

Tatsächlich war der Euro im vergangenen Jahr ein grosses Problem für uns, primär im Sommer. Die Preise für den Sommer 2010 kalkulierten wir zu einem Zeitpunkt, als der Wechselkurs zum Euro über CHF 1.50 lag. Gegen Ende Sommerbuchungssaison lag der Tageskurs aber bei CHF 1.30. Wir waren Ende Sommersaison demzufolge gegen 15 Prozent zu teuer, verglichen mit dem Internet und den Wettbewerbsteilnehmern ennet der Grenze. Die Marken TUI und Vögele Reisen, die mit einem abgesicherten Wechselkurs kalkuliert waren, stagnierten darum. Bei 1-2-Fly hingegen, wo wir den
Europreis mit CHF 1.35 direkt an die Kunden weitergaben, verbuchten wir ein Wachstum. Im internationalen Wettbewerb – ich spreche hier von Internet, nicht von nationalen Mitbewerbern – waren die Preise zum Teil zu hoch. Dennoch hielten wir an ihnen fest und zogen unser Preisbild konsequent durch. So hatten wir keinen Währungsverlust und keinen Margenzerfall, dafür aber weniger Marktumsatz, denn die Kapazitäten füllten wir mit den Preisbrecherangeboten von 1-2-Fly.

Was versprechen Sie sich davon, Flex Travel zu einem Subbrand unter dem TUI-Markendach zu machen?

Erstens steigern wir mit der neuen TUI-Produktelinie den Markenwert und die Marktpräsenz. Gleichzeitig stellen wir dar, dass wir unter der Dachmarke TUI von A bis Z alle Arten von Reisen und Ferien anbieten. Stand heute ist die Marke TUI in der Schweiz stark badeferienorientiert. Wir decken zwar den ganzen Badeferienbereich in der Breite und der Tiefe sehr gut ab, nicht aber das Individualreisegeschäft. Dabei wächst dieses massiv. TUI Suisse erzielt bereits heute mit Individualreisen fast gleich viel Umsatz wie mit Badeferien der Marke TUI. Zweitens wissen wir, dass das Individualreisegeschäft mehr im Reisebüro abgewickelt wird und das Badeferiengeschäft im Internet; eine Tendenz, die sich zuspitzen wird. Darum ist es wichtig, unsere TUI Reisecenter sowie die Reisebüros mit dem TUI-Logo zu stärken, indem die Marke TUI alles anbietet, also nicht nur Badeferien. Drittens möchten wir das Individualreisegeschäft von Flex stärker vermarkten, im B2B- wie im B2C-Bereich. Dabei konzentrieren wir uns auf die Dachmarke TUI, die bereits eine sehr hohe Bekanntheit und Akzeptanz geniesst, um Synergien im Handels- und Endkunden-Marketing zu nutzen.

Wie viel Zusatzpotenzial eröffnet sich so für Flex über den Wiederverkauf?

Im Handel wird nicht entscheidend sein, ob das Produkt mit TUI Flex Travel oder nur mit Flex Travel angeschrieben ist. Für den Handel sind im Individualreisegeschäft andere Faktoren entscheidend: die Systeme, das Know-how und die Vertriebskommissionen. Es ist wichtig, dass der Handel weiss, dass wir die bisherige Strategie weiterführen und für die Angebote von TUI Flex Travel die bisher erfolgreichen Macher verantwortlich sind. 

Und im Direktvertrieb?

Tatsächlich öffnet die Dachmarke TUI der Marke Flex die Türen nicht primär im Handel, sondern im B2C-Bereich. Denn im B2C-Kontakt ist Werbung relevant. Bislang haben wir kaum Werbung für Flex gemacht. Auch Internet wird für Flex wichtiger, nicht zuletzt weil Flex Travel Discount lanciert wird. Mit der Nähe zum TUI-Smile nutzen wir die Markenkraft der grössten Tourismusmarke Europas einfach und effizient. 

Befürchten Sie keine negativen Reaktionen aus dem Handel, wenn Flex verstärkt Endkonsumenten anspricht?

Jedes Reisebüro, das die Marken TUI und Flex Travel führt, ist froh, wenn wir Endkonsumentenwerbung machen. Denn das führt dazu, dass Kunden das Reisebüro betreten und das Produkt aktiv verlangen. Um in der Deutschschweiz eine Marke bei Endkonsumenten aufzu-bauen, braucht man pro Jahr rund CHF 2 Mio. Diese Summe wollen wir nicht investieren. Doch haben wir die Möglichkeit, die Produktlinie TUI Flex Travel in den üblichen TUI-Marketingkampagnen mitzuführen. Ohne zusätzliches Marketinggeld auszugeben, vermitteln wir damit dem Konsumenten, dass TUI nicht badeferienlastig ist, sondern weltweit auch individuelle Reisen anbietet.

Wie autonom agieren die von Roberto Luna resp. Matthias Huwiler geführten strategischen Geschäftseinheiten Pauschal- und Individualtouristik?

Wir haben mit der Restrukturierung bewusst versucht, gewisse Themen der beiden Einheiten zu entflechten, damit TUI Flex Travel und TUI Schöne Ferien keine Überlappungen aufweisen. Da-rum sind die Überschneidungen marginal. Roberto Luna und Matt Huwiler sind ein ideales Gespann, das sich gegenseitig vorwärtsbringt. Wenn es doch mal einen Reibungspunkt gibt, lösen die beiden das selbständig. 

Wo orten Sie die grösste Herausforderung für TUI Suisse?

Der Druck kommt nicht primär von den direkten Mitbewerbern. Die grösste Herausforderung ist das sich verändernde Geschäftsmodell. Dieses ist in seiner heutigen Form gefährdet und muss überdacht werden. Betrachten wir die Umsatzentwicklung und die Ertragskurve der drei grossen Schweizer Reiseveranstalter der letzten zwei, drei Jahre, ist nur eine Schlussfolgerung korrekt: Das traditionelle Geschäftsmodell liegt auf dem Sterbebett.

Wie begegnen Sie dieser Gefahr?

Der Wandel des Geschäftsmodells hat sich von langer Hand angekündigt und wird nun immer besser greifbar. Im Zentrum steht dabei das veränderte Kunden- und Buchungsverhalten, das über Internet und andere elektronische Medien ausgedrückt wird. Um dem zu begegnen, müssen wir an der Technologie arbeiten und das Geschäftsmodell anpassen. 

Ist dieser Kampf überhaupt noch zu gewinnen?

Selbstverständlich. Allerdings müssen wir uns überlegen, wie wir als Reiseunternehmen in fünf, zehn Jahren aussehen und funktionieren werden. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe.  Auf jeden Fall glaube ich nicht, dass das Internet das Retailing vollständig verdrängen wird. In der Schweiz hat das Retailing zwar ein Volumenproblem, jedoch kein Margenproblem. Das liegt daran, dass die Veranstalter immer noch sehr gute Kommissionen bezahlen. Die Wettbewerbssituation unter den Veranstaltern trägt dazu bei, dass die Kommissionen weiterhin hoch bleiben. Solange es diesen Wettbewerb gibt, werden die Kommissionen nicht massiv unter Druck geraten. Ich gehe davon aus, dass sie irgendwann mal reduziert werden, allerdings lediglich um ein, zwei Prozent.

Null Prozent Kommission ist für Sie nicht realistisch?

Der Wettbewerb unter den Veranstaltern erlaubt keine Null-Prozent-Kommission. Das ist bei den TOs anders als zum Beispiel bei Swiss/Lufthansa, die ein Quasi-Monopol haben. Zudem darf man nicht vergessen, dass andere Vertriebskanäle einem Veranstalter auch Kosten verursachen. Auch der Absatz via Internet funkti-oniert nicht ohne Kommission. Online Travel Agencies werden heute ähnlich entschädigt wie stationäre Retailer. Wir sind überzeugt, dass es genügend Reisebüros gibt, die uns als Veranstalter auch in Zukunft einen Mehrwert bieten. Dafür sind wir bereit, eine angemessene, faire Vertriebskommission zu bezahlen.

Welche Rolle spielen in Ihren Konkurrenzüberlegungen deutsche TOs wie Neckermann, Alltours oder Schau-insland, welche immer zahlreicher in die Schweiz drängen?

Das Preisniveau ist nicht mehr das grosse Thema. Einen entscheidenden Unterschied macht in erster Linie nur noch der Euro-Franken-Wechselkurs aus. 

Setzen diese Veranstalter TUI Suisse stärker zu als Urschweizer Veranstaltern wie Hotelplan und Kuoni?

Das muss auf die Marken heruntergebrochen werden. Es ist unser Ziel, die Marke TUI in der Schweiz als Qualitätsanbieter zu positionieren. Aus diesem Grund argumentieren wir heute nicht mehr mit den unverschämt deutschen Preisen. Das entspricht nicht dem Markenversprechen. Als Unternehmen hat TUI Suisse mit der Preisbrechermarke 1-2-Fly eine effiziente Waffe, um den deutschen Billigmarken zu begegnen. Das ermöglicht uns gleichzeitig, die Qualitätsmarke TUI in der Wahrnehmung noch ein wenig anzuheben.

1-2-Fly punktet mit dem Euro und dem Preisgefüge. Und womit punktet die Marke TUI?

Der Asset von TUI im Badeferienbereich ist nicht das Me-too-Hotel. Es sind die Exklusivitäten der World of TUI, namentlich zum Beispiel die Clubs von Robinson und Magic Life oder die Hotels von Riu, Grecotel, Grupotel etc. Der zukünftige Wettbewerb, der in der Schweiz erst angefangen hat, bringt Vergleichsportale. Und wer Vergleichsportal sagt, sagt auch No-Name-Brands. Der Günstigste ist der «Beste», weil er zuerst gelistet wird. Markenname und Qualität sind komplett egal. Wenn man in diesem System mitmischen will, darf man kein Geld ins Marketing investieren, sondern muss lediglich günstig und im Vergleich aufgeführt sein. Die Marke TUI muss sich mit ihren TUI-Beteiligungshotels und anderen Exklusivitäten nicht in Vergleichsportalen mit anderen messen. Grecotel, Robinson usw. gibt es nur bei uns. Das ist unser TUI-Vorteil. Andere Veranstalter ohne Exklusivitäten hingegen werden voll in die Preisachse getrieben.

Ihre Strategie für die Marke TUI ist also, nicht vergleichbar zu sein. Wie sieht Ihre Strategie mit Flex Travel, neu TUI Flex Travel, aus?

Im Individualreisesegment ruht unsere Strategie auf zwei Pfeilern: Einerseits entwickeln wir die individualisierten «Tailor-made-Angebote» in der gewohnten Qualität weiter; ndererseits lancieren wir Flex Travel Discount. Damit bieten wir Dynamic Packaging Sourcing an, das im Individualreise-bereich dem Reisebüro die Vorteile des Internets über uns zugänglich macht, aber tiefer kommissioniert wird.Unser Vorgehen öffnet dem Reisebüro zwei Wege: Das Reisebüro kann unsere bekannten Produkte wie bis anhin verkaufen. Der Grossteil, wahrscheinlich 90 bis 95 Prozent, wird dies auch so tun. Wenn nötig, kann das Reisebüro dem Kunden jedoch über FTD eine Offerte machen, die mit jedem Internetangebot mithält – und das mit dem Vorteil, dass das Reisebüro nicht zum Veranstalter werden muss.

Fünf Prozent Kommission für über FTD erzielte Umsätze, ist das ein Zwischenschritt zu null Prozent oder ein nachhaltiger Ansatz?

FTD zeigt, wie wir uns den neuen He-rausforderungen effektiv stellen. Fünf Prozent sind ein Kompromiss. Zehn oder mehr wären nicht möglich, weil das Produkt dann zu teuer würde. Null Prozent war tatsächlich eine Option. Nach Gesprächen mit ausgewählten Retailern haben wir uns entschieden, dennoch einen Anreiz zu setzen. Doch sind wir stets bereit, wo nötig Anpassungen vorzunehmen.

Angelo Heuberger/Sara Marty