Ein erfülltes Leben führen dank Work-Life-Balance

Dr. Joachim Leupold, Facharzt für Psychiatrie und Physiotherapie, gibt darüber Auskunft, wie man sein Leben im Gleichgewicht behält und wo die Gefahren für eine Dis-Balance liegen.

Herr Dr. Leupold, was versteht man unter dem Begriff Work- Life-Balance?
Bei der Work-Life-Balance geht es darum,das Gleichgewicht zwischen Arbeits-und Privatleben zu finden. Manche Kritiker des Work-Life-Balance-Konzepts sagen, dass das Arbeitsleben ja zum Leben gehöre und sogar ein ganz wichtiger Bestandteil sei. Trotzdem ist es wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, wie mich mein Arbeitsleben und wie ich mein Privatleben gestalte und ob diese beiden aufeinander abgestimmt sind – qualitativ und quantitativ.

Aus welchem Grund ist das Thema seit einiger Zeit so aktuell?
In unserer heutigen leistungsorientierten Welt geht es immer wieder um die Frage, ob ich mir bewusst bin, wie ich meine Zeit verbringe, wie ich meine Ressourcen, die ich verbraucht habe, wieder aufbauen kann. Den Begriff Work-Life-Balance gibt es aber schon seit längerer Zeit und die Suche nach dem Gleichgewicht zwischen Arbeits- und Privatleben ist sicherlich bereits seit rund zehn Jahren ein Thema. Ich bin selber vor zehn, 15 Jahren im Zusammenhang mit meiner Auseinandersetzung mit Erschöpfungsdepressionen, mit Burnout-Entwicklungen darauf gestossen. Ich habe daraufhin ein Diagramm erstellt, das sich «Die vier Säulen der Gesunderhaltung» nennt. Das ist eigentlich ein Work-Life-Balance-Modell.

Dieses Modell enthält also die grundlegenden Elemente für eine ideale Work-Life-Balance.
Genau, es ist meine Herangehensweise, wie ich Menschen anleite, auf die vier Kategorien Arbeitswelt, soziales Leben, Körper und Sinne sowie kulturelles, emotionales Erleben zu schauen. Die Idee dahinter ist, dass jeder für sich eine Ist-Analyse erstellt und guckt, wie sieht es in seinem Leben im Moment in diesen verschiedenen Kategorien aus und wie könnte bzw. sollte es aussehen. Manche Leute erschrecken, wenn sie sich in einem Kuchendiagramm veranschaulichen, wie sich ihr Leben gestaltet. Ich verlange immer von ihnen, dass sie für den Schlaf genügend Zeit, das heisst zwischen sechs und acht Stunden, einplanen,damit sie erholt sind. Das fehlt uns schon von den 24 Stunden für Beruf, Hobbys, Familie und Freunde. Man stellt schnell fest, wie eng der Zeitrahmen eigentlich ist, um alle Aspekte, die zu unserem Leben gehören, unter einen Hut zu bringen. Interessant ist, dass ich immer wieder Menschen begegne, die das Gefühl haben, sie seien äusserst soziale Wesen, weil sie tagtäglich mit ganz vielen Menschen sprechen, doch dies geschieht alles arbeitsbezogen. In dem Moment, wo sie entweder den Arbeitsplatz verlieren oder pensioniert werden, herrscht plötzlich gähnende Leere. Bei Businessleuten ist sicherlich der Return on Investment wichtig, das heisst, dass sie im Idealfall ein erfülltes Leben haben, in dem sie, obwohl sie ganz viel machen, nicht erschöpfen. Die Erschöpfung erfolgt meistens durch eine Einseitigkeit, wenn eben die Balance nicht mehr gegeben ist. Sie investieren beispielsweise viel in ihr Arbeitsleben und leben ganz viele andere Teile ihres möglichen Lebens nicht, die für sie eine ganz wichtige Ressource wären, um leistungsfähig im Job zu bleiben. Wenn also nur eine Säule bewirtschaftet wird, dann braucht es nur einmal ein Zuvielwerden beispielsweise in der Leistungsschiene oder diese fällt ganz weg und dann stürzen die Menschen in ein grosses Loch – in eine Lebenskrise, in eine Depression oder in ein Burn-out.

Wie merkt man ganz konkret, dass das Gleichgewicht aus den Fugen geraten ist?
Das sind ganz individuelle, unterschiedliche Dinge. Es gibt beispielsweise die sieben Stufen der Burn-out-Entwicklung von Professor Matthias Burisch. Es kann beginnen mit leichten Stresssymptomen, die jeder von uns kennt. Man schläft nicht gut, ist gereizter, bekommt Herzklopfen oder beginnt plötzlich stark zu schwitzen. Die nächste Stufe sind Konzentrationsstörungen und Schmerzsymptome aufgrund von Verspannungen. Nun sind bereits Auswirkungen auf die Arbeit spürbar. Die Menschen sind nicht mehr so effizient, nicht mehr so flexibel etc. Die Geschichte geht weiter mit Essstörungen, Suchtmittelmissbrauch, Depressionen bis hin zu einer schweren Depression und Verzweiflung. Dieser Burn-out-Prozess kann sich über Monate oder Jahre hinwegziehen. Es gibt selbstverständlich auch andere Symptome wie Herzinfarkt oder Schlaganfall, die teilweise bereits das Endstadium darstellen. Ich versuche in meinen Vorträgen, jeden einzelnen zu sensibilisieren, solche Symptome ernst zu nehmen. Es ist etwas, das Jeden und Jede treffen kann, ungeachtet irgendeiner psychiatrischen Vorgeschichte.

Gibt es dennoch einen Typ Mensch, der besonders gefährdet ist, dass die Work-Life-Balance aus dem Gleichgewicht gerät?
Ja, den gibt es. Es sind Menschen, die eigentlich sehr sensibel sind, aber ein ganz hohes Kontroll- und Machtbedürfnis besitzen. Viele sind in einer Führungsposition, wo auch eine gewisse Härte und Durchsetzungsvermögen gefordert sind. Diese Menschen machen aber gleichzeitig vieles mit sich selber aus und versuchen, ihre Sensibilität zu verstecken. Wenn man so ein Typus Mensch ist, heisst das selbstverständlich nicht, dass man unweigerlich in ein Burn-out schlittert oder einen Herzinfarkt bekommt, aber das Risiko ist höher als bei anderen Menschen.

Doch für manche Menschen ist es schwierig einzugestehen, dass sie Hilfe benötigen.
Das ist richtig. Doch sehr häufig bekommt man Rückmeldungen von Partnern und Partnerinnen, von Kindern, Berufskollegen, Mitarbeitenden, Vorgesetzten. Und es ist wichtig hinzuhören, denn die Feedbacks kommen eigentlich immer. Gerade das nahe Beziehungsumfeld spürt, dass dieser Mensch sich verändert hat und nicht mehr derselbe wie früher ist. Die Gereiztheit, der Missmut oder die Gleichgültigkeit sind Zeichen von der Überforderung und zunehmenden Erschöpfung des Betroffenen.

Kann man sagen, bis wann die Betroffenen noch selber reagieren können bzw. wann es bereits zu spät ist?
Ja, bis zur Stufe, wenn der Betroffene emotional stumpf wird und beispielsweise geliebte Hobbys aufgibt, kann er noch selber reagieren und umkehren. Wenn er erkennt, dass die Ernährung völlig aus dem Lot geraten ist, der Sport vernachlässigt wird, die Schlafhygiene eine Katastrophe ist und die fünf Bier am Abend auch weggelassen werden könnten, dann kann ein Mensch durch einen ganz vernünftigen Dialog mit seiner Partnerin oder einem guten Freund und mit ein bisschen gesunden Menschenverstand Massnahmen ergreifen, die relativ schnell zu einer Stabilisierung beitragen. Wenn die Stufe 6 erreicht ist und der Betroffene sich während der Freizeit oder sogar während den Ferien nicht mehr erholen kann, braucht es eine Therapie mit ärztlicher Unterstützung. Häufig kommt es in dieser Phase auch zu einem vermehrten Konsum von Alkohol oder anderen Drogen.

Es gibt immer mehr Hotels, die das Thema Work-Life-Balance aufgreifen und spezielle Programme anbieten. Bringt es den Menschen etwas, wenn sie dort eine Woche Aufenthalt buchen?
Durchaus! Die Selbstbeachtung ist bereits etwas ganz Wertvolles – im Sinne von: Ich nehme mir mal Zeit für mich. Das kann in einem schönen Hotel sein oder auch in einem Kloster. Ich habe ganz tolle Erfahrungen mit Menschen gemacht, die sich so etwas gönnen. Sie können enorm davon profitieren. Es ist wie ein Intensivkurs und eine Standortanalyse. Man kann die Menschen instruieren – hier etwas Entspannung, dort etwas sportliche Aktivität, gekoppelt mit gutem Essen etc. Am Ende des Aufenthaltes geht es auch darum, dem Gast etwas mitzugeben, was er ganz konkret zu Hause umsetzen kann.

Dr. med. Joachim Leupold, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, war von 2005 bis 2008 ärztlicher Leiter am medizinischen Zentrum der Grand Resort Bad Ragaz AG und kooperiert weiterhin mit dem Resort im Bereich der Prävention von Stressfolgeerkrankungen. www.seelischegesundheit.ch

Dr. med. Joachim Leupold, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, war von 2005 bis 2008 ärztlicher Leiter am medizinischen Zentrum der Grand Resort Bad Ragaz AG und kooperiert weiterhin mit dem Resort im Bereich der Prävention von Stressfolgeerkrankungen.
www.seelischegesundheit.ch