Gastkommentar: «Das nennt sich kurz und bündig Fernweh!»

Der Autor und Branchen-Insider Erich Witschi (60) arbeitet für Globetrotter und betreut die Helpline.

«Zu reisen ist zu leben» – dieses prägnante Zitat von Hans Christian Andersen bringt es auf den Punkt. Die meisten von uns brauchen das Reisen wie Sauerstoff zum Atmen. Dabei spielt es keine Rolle ob es ein Trip für einen, zwei oder drei Tage ins benachbarte Ausland ist, oder Ferien auf dem Campingplatz von Rimini, eine Kulturreise nach Jordanien oder eine mehrmonatige Weltreise.

Im Jahr 2018 unternahmen 88% der Schweizer und Schweizerinnen mindestens einmal pro Jahr eine 3-tägige Privatreise ins Ausland. Im Durchschnitt wurden 2,8 längere Reisen und 2,6 Kurztrips unternommen.  Die Gründe für diese Reiselust sind mannigfaltig.  Ein wichtiger Aspekt ist sicher unsere Lage als Binnenland, umgeben von attraktiven Reisedestinationen. Ein weiterer Grund ist die geringe Grösse und die damit verbundene Bevölkerungsdichte. Viele haben schlicht das Bedürfnis (ich schliesse mich da enthusiastisch mit ein), 2 bis 3 Mal pro Jahr die engen Grenzen Helvetiens zu verlassen um fremde Luft zu schnuppern, andere Stimmen zu hören und ungewohnte Gerüche wahrzunehmen. Das nennt sich kurz und bündig Fernweh!

Seit ein paar Monaten wird unser Reisedrang jedoch getrübt und war eine Zeitlang sogar gänzlich unterdrückt. Zuerst kam das unsägliche Flight Shaming, dann der Lockdown, gefolgt von Medienberichten über die hohe Ansteckungsgefahr im Flugzeug usw. Trotzdem kam in den letzten Wochen etwas Bewegung in die Reisewelt. Das aufgestaute Bedürfnis nach Sonne, Sand und Meer, dem Espresso auf dem Markusplatz oder einem Spaziergang durch die Altstadt von Sevilla war stärker als die Panikmache der Medien oder die völlig irrationale Angst (nicht gesunder Respekt – Angst!) vor dem Virus.

Man hat die Maske eingepackt, die Gesundheitsformulare der Behörden ausgefüllt, den Spiessrutenlauf am Flughafen und die harschen Bestimmungen an Ort auf sich genommen. Bei Ankunft an der Destination wurde man zu Beginn fast als heldenhafte Pioniere gefeiert und noch freundlicher als sonst empfangen. Nach der Rückkehr in heimatliche Gefilde wurde begeistert von leeren Stranden, freundlichen Leuten, grossartigem Wetter und guter Stimmung berichtet. Dies wiederum hat die noch etwas skeptischen und zögernden Reisewilligen ermutigt, auch noch für ein paar Tage zu verreisen. Dabei haben BAG und Co. sowie diverse Regierungsmitglieder nichts unversucht gelassen, diesem Trend den Riegel zu schieben und uns das Reisen auszureden.

Beinahe mantramässig wurde bei jeder Gelegenheit und an jeder PK gepredigt, unser hart verdientes Geld in der Schweiz auszugeben. Um das Ganze zu bekräftigen wurden 40 Millionen Franken Steuergelder für eine unsinnige Werbekampagne von Schweiz Tourismus unter dem Motto «Dream now – Travel later» gesprochen, während dessen die Outgoing-Branche monatelang um Unterstützung betteln musste und grösstenteils immer noch dran ist. Ob es in der momentanen Lage wirklich nötig war für Ferien in der Schweiz zu werben sei dahingestellt. Mit dem heillosen Durcheinander bei den Grenzöffnungen, Quarantänebedingungen, Formularen und vielen anderen Bestimmungen, die dazu noch täglich ändern, werden die meisten Reisewilligen, die jetzt ihre Herbstferien planen, definitiv abgeschreckt.

Auch Airlines leisten mit unzähligen Flugstornierungen und Flugplanänderungen weiterhin ihren Beitrag zur Eindämmung der Reiselust. Dann schlug auch wieder die Stunde der Medien. Mit präziser Regelmässigkeit werden «dreiste» Auslandreisende seit Wochen akribisch unter die Lupe genommen. Man scheut keine Mühe zu beweisen, dass eine Reise ins Ausland ein waghalsiges Unterfangen und keinesfalls patriotisch ist. Befragungen von Heimkehrern über die «Lage vor Ort» (als ob sie aus einem Katastrophengebiet kämen), Fake News über Ansteckungen im ach so gefährlichen Ausland sowie eine Dauerberieselung über die (zweifellos vorhandenen) Schönheiten und Vorzüge unserer Heimat gehören zur Tagesordnung. Ausgewogene Berichterstattung? – Fehlanzeige! Mit keinem Wort, höchstens in einer Fussnote, wird erwähnt, dass in vielen Länder tiefere Ansteckungszahlen verzeichnet und bessere Vorkehrungen getroffen werden als hierzulande.

Niemand bestreitet die Tatsache, dass wir in einem schönen und sicheren Land mit einer gut funktionierenden Infrastruktur leben. Für viele Mitbürger und Mitbürgerinnen genügt das vollkommen und sie verspüren kein Bedürfnis für eine Reise ins Ausland. Das ist verständlich und komplett in Ordnung! Ich bin auch froh, hier geboren zu sein und leben zu können und werde meine Ferien dieses Jahr wohl auch in der Schweiz verbringen. Aber ich bin auch froh und dankbar, mehrere Jahre im Ausland gelebt und auf vielen Reisen meinen Horizont erweitert zu haben. Mag klischeehaft tönen – ist aber so! Niemand weiss wie es nun weitergeht. Hoffnungsschimmer und Rückschläge gehören zur Tagesordnung. Bleibt zu hoffen, dass sich mit der Zeit eine gewisse Resistenz gegen die grösstenteils irrationalen Ängste etabliert und bei vielen Leuten wieder Vernunft und Eigenverantwortung einzieht. Die grosse Frage bleibt jedoch: Wann?