Gastkommentar: Was ist das kleinere Übel?

Ab dem 20. April: Eine schrittweise Rückkehr zur Normalität und Läden sowie Restaurants bald wieder öffnen.

Am 16. März 2020 verschärfte der Bundesrat die Massnahmen, um eine weitere Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Bis zum 19. April soll die «ausserordentliche Lage» gemäss Epidemiegesetz gelten. Roland Schegg, Professor am Institut für Tourismus der Fachhochschule Westschweiz in Sitten VS, rechnet, dass der Umsatzverlust alleine in der Schweizer Hotelbranche von März bis Mai 2020 zwei Milliarden Franken betragen wird. Der Notstand kostet die Schweizer Wirtschaft eine Milliarde Franken – pro Tag. Mittlerweile sind mehr als 25 Prozent der Beschäftigten auf Kurzarbeit gesetzt.

Der Bundesrat sorgt sich um die Gesundheit der Bevölkerung. Nun muss er sich auch verstärkt um die Gesundheit der Wirtschaft kümmern und darf den Notstand nicht verlängern. «Das wäre völlig unverantwortlich. Eine Verlängerung der Null-Toleranz-Politik schlägt letztlich auch auf die Gesundheit der Bevölkerung durch», warnt Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann von der Universität Zürich. Der Uni-Professor ist kein Schwarzmaler: In den vergangenen Wochen haben häusliche Gewalt sowie Tote durch Herzinfarkt oder Panik zugenommen. Der hessische Finanzminister Thomas Schäfer brachte sich um, weil er sich offensichtlich grosse Sorgen in der Coronakrise machte.

Hält der Notstand an, kommt es zu Tausenden von Arbeitslosen und Hunderten von Firmenkonkursen, was dramatische gesundheitspolitische Folgen hätte. Wieso ist die Weltwirtschaft, wieso ist die Branche derart in Schieflage? Es ist die Angst vor einer Pandemie, die im Januar noch kaum jemand in Europa richtig ernst nahm. In der Schweiz sind bis zum 5. April 21’100 Menschen positiv auf das neue Coronavirus getestet worden, 559 sind gestorben. Das sind ohne Zweifel traurige Zahlen. Doch 2017 gab es schweizweit gegen 1000 Grippetote. Wurden deswegen die Grenzen geschlossen? Drei andere Zahlen: In Italien liegt das Durchschnittsalter der positiv-getesteten Verstorbenen bei 81 Jahren, 90 Prozent der Verstorbenen sind über 70 Jahre alt, 80 Prozent der Coronatoten Italiens hatten zwei oder mehr chronische Erkrankungen.

Ich bin kein Mediziner und möchte die Gefahr der Pandemie nicht kleinschreiben. Aber als Journalist ist es meine Pflicht, Zusammenhänge aufzuzeigen. Wir sollten uns deshalb fragen, ob wir wirklich wollen, dass in den nächsten Wochen Läden, Restaurants, Reisebüros und Fluggesellschaften in Konkurs gehen – und deren Angestellte auf der Strasse stehen.

Um das zu verhindern, sollte es ab dem 20. April auch anderen Geschäften erlaubt sein, was für Coop, Migros & Co. derzeit gilt: eine schrittweise Rückkehr zur Normalität und zum demokratischen Rechtsstaat Schweiz. Das ist allerdings für die Reisebranche eine schwache Hilfe, solange die Grenzen geschlossen sind. Sie kann nur darauf hoffen, dass die Touristen in aller Welt und vor allem die Regierungen diese Pandemie neu beurteilen – lieber heute als erst morgen.


Reto E. Wild (51) ist Tourismusprofi und Chefredaktor des «GastroJournals».