Infektiologe Jan Fehr: «Das Virus wird unser Haustier»

Der Departementsleiter für Public and Global Health an der Universität Zürich über das Leben und Reisen nach der Corona-Pandemie.
Prof. Dr. med. Jan Fehr ©zVg

Prof. Dr. med. Jan Fehr ist als Infektiologe Departementsleiter für Public and Global Health an der Universität Zürich und in dieser Funktion Leiter des Impfzentrums am Hirschengraben, dessen eigentliche Bestimmung das Zentrum für Reisemedizin ist.

Vor einem Jahr, als die Schweiz von der ersten Corona-Welle betroffen war, hat Kurt Schaad für TRAVEL INSIDE mit ihm ein Interview zur aktuellen Situation geführt. Ein Jahr später hat sich Jan Fehr für ein weiteres Gespräch bereit erklärt. Er habe in dieser Zeit einiges hinzugelernt, nicht zuletzt auch ein «learning by doing»-Medientraining erhalten und dabei gelernt, wie wichtig kommunizieren sei. Besonders am Herzen liegt ihm, Menschlichkeit auch in schwierigen Zeiten in den Fokus zu setzen und zu vermitteln, dass Menschenleben keine verhandelbare Ware sei. Covid-19 habe auch gezeigt, dass wir eine globale Verantwortung haben, die wir wahrnehmen sollten.

Kurt Schaad hat den Infektiologen vor wenigen Tagen zum zweiten Mal getroffen.


Vor ziemlich genau einem Jahr hat unser letztes Gespräch stattgefunden. Was sagen Sie im Rückblick dazu?

Die Kernaussagen stimmen nach wie vor. Generell: Das Prinzip des Lernens ist wichtig in einer Pandemie. Man geht einen Schritt, schaut, was man gemacht hat und geht dann einen Schritt weiter. Das hat man zwar nicht immer so eingehalten, aber das Learning daraus ist, dass man eben dieses Grundprinzip nicht verlassen darf, um in der Pandemie durchzukommen. «Short cuts» zahlen sich nicht aus.

Und wenn Sie einzelne Punkte betrachten?

Ich hatte erwartet, dass die Impfung in 12 bis 16 Monaten da sein wird. Nun ist es schneller gegangen. Wenn man das mit anderen Infektionskrankheiten vergleicht, dann sind 12 bis 16 Monate schon sehr ambitiös. Aber hier sind die hohen Erwartungen noch übertroffen worden – fast schon ein medizinisches Wunder, dass man es so schnell hingebracht hat. Es war aber auch ein Wettlauf mit manchmal hysterischen Zügen.

Es lohnt sich, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen, wo stehen wir eigentlich? Wo stehen wir auf diesem Globus?

Wir sind schon unglaublich privilegiert. Man schaut die Hitlisten an und findet: Ouh, die Schweiz ist nicht auf dem Podest unter den 20 Top-Impfländer, als würde man ein Weltcup-Skirennen mitverfolgen. Dabei geht es um mehr und man vergisst, dass es noch 180 weitere Länder gibt, die den Impfstoff genauso nötig haben und weniger bevorzugt behandelt werden wie wir. Dabei muss das Problem global gelöst werden. Bezogen darauf wünsche ich mir, dass wir mit etwas mehr Sensibilität in das wieder normalere Leben zurückkehren, wie wir es von früher kennen. Vielleicht nehmen wir auch etwas mehr Bescheidenheit mit.

Betrifft Ihr Wunsch auch vermehrte Reisetätigkeiten, wie sie sich jetzt wieder langsam abzeichnen.

Vor einem Jahr waren wir alle gegroundet. Auch ich war gegroundet und man spürte und spürt immer mehr das Bedürfnis, wieder reisen zu können. Meine Einschätzung ist, dass wir möglicherweise in einen Boom hineingehen werden, was das Reisen angeht. Wenn der Boom in eine Richtung geht, bei der die Qualität wichtiger ist als die Quantität, dann geht es in diese Richtung, mit der ich vorher die Sensibilität angesprochen habe.

Anstatt drei Mal drei Tage irgendwohin zu fliegen, nehme ich mir lieber drei Wochen Zeit für eine Reise, bei der auch die Seele mitkommt, bei der ich mich tiefer in fremde Kulturen einfühlen kann. Das gibt auch den Angestellten in den Reiseunternehmen mehr Luft und Zeit, sich besser auf die Reisenden einzulassen.

Die Schweiz ist sich nicht gewohnt, mit Einschränkungen umzugehen. Deshalb auch mehr Bescheidenheit?

Corona ist ein Brennglas, das Missstände aufzeigt. Missstände, die schon vorher bestanden haben. Wenn wir vernünftig reagieren, eben nicht so wie in der zweiten Welle, dann sind wir gut unterwegs, weil wir eben auch dieses gute Gesundheitssystem haben. Nun zeigt sich aber auch, dass wir in diesem System zum Beispiel bei der Pflege einen Notstand haben. So wie das Pflegesystem unterdotiert ist, aber trotzdem Unglaubliches leistet, ist das auf längere Sicht nicht mehr tragbar.

Auch der Dialog mit den Entscheidungsträgern muss unter die Lupe genommen werden. Man kann eine Task Force nicht erst installieren, wenn das Haus schon brennt, man muss diese in den interpandemischen Zeiten aufbauen. Es ist logisch, dass in der jetzigen Pandemie der Dialog laut wird, weil man das Feuer übertönen muss.

Die Frage lautet demnach: wie können wir besser vorbereitet sein und was lernen wir aus der jetzigen Pandemie. Es wird wahnsinnig viel in die Versorgung und wenig in die Vorsorge investiert. Leider hat sich das Schweizer Stimmvolk 2011 gegen das Präventionsgesetz entschieden. Das wäre der Boden gewesen für innovative Ansatzpunkte, um das Gesundheitssystem nachhaltig zu entlasten und die Bevölkerung gesünder zu machen. Andere Staaten sind da viel agiler und moderner unterwegs.

Man könnte auch sagen, dass der Dialog untereinander, über das Gesundheitswesen hinaus, nur schlecht funktioniert hat.

Was die Kommunikation betrifft brauchen wir eine Nachlese. Und das müssen wir systemisch anschauen. Nicht so, wie es von verschiedenen Seiten gemacht wird: «Der hat das nicht gemacht, der hat das nicht gesagt». Anstelle zu Fragen: «Wie kam es soweit – wo gibt es Lücken im System?»

Fehler sind ja praktisch immer das Resultat von Verkettung mehrerer unglücklicher Zustände. Simple Schuldzuweisungen greifen zu kurz und bringen uns nicht vorwärts. Leider sind gerade Medien und Politik rasch auf den Zug des «Blame Game» aufgesprungen und haben die Stimmung angeheizt. Gewisse Klicks bringen mehr Klicks als andere. Die Recherche ist bei diesem Informationskarussell ziemlich untergegangen. Und bald wurde mit der Pandemie auch Politik gemacht, so dass es für die Verantwortlichen schwierig wurde vernünftige Entscheide zu fällen.

Würden Sie dem zustimmen, dass wir als Gesellschaft mit einer Krise offensichtlich nicht besonders gut umgehen können?

Den Stresstest «Pandemie» haben wir jedenfalls nicht mit Bravour bestanden. Auf die zweite Welle in der Schweiz bin ich gar nicht stolz. Da ist vieles schief gelaufen. Wir haben viel zu lange zugeschaut, wie viele Leute in den Altersheimen gestorben sind und das Gesundheitssystem an den Anschlag kam. Das hätte nicht sein müssen, wenn man die Evidenz schon früher einbezogen hätte.

Das wichtigste Learning daraus?

Die Bekämpfung der Pandemie fängt nicht bei deren Ausbruch, sondern schon lange vorher an. Wir müssen jetzt in einen Dialog der verschiedenen Player hineinfinden. Logisch ist auch, dass gewisse Depots gefüllt sein müssen. Die Denkphasen dürfen nicht nur von Wahlen zu Wahlen reichen. Das Denken muss von einer gewissen Nachhaltigkeit geprägt sein.

Sie sprachen auch von einem Covid-19-Eintrag ins Impfbüchlein, wie man ihn zum Schutz vor anderen Infektionskrankheiten schon kennt. Haben Sie damals schon gedacht, dass die Impfung dermassen verpolitisiert werden wird?

Das habe ich relativ schnell gemerkt. Spätestens von dem Zeitpunkt an, als der erste Kanton seine Impfpläne bekannt gab, wurde das Rennen um die Impfstoffe lanciert. Das hat eine Spirale in Gang gesetzt, die mit Erwartungen und Erwartungshaltungen zu tun hat. Wenn man den Verlauf der Pandemie anschaut, bei der man meistens im reaktiven Modus ist, dann sind Politiker geneigt, Ansagen zu machen, die diese Erwartungshaltungen befriedigen sollen. An diesen Ansagen, die meistens sehr sportlich waren, wird man gemessen.

Dann kommen die Medien, die das aufgreifen und mit der Realität konfrontieren. Und schon haben wir einen Teufelskreis, der die Entscheidungsträger in Zugzwang bringt, noch sportlichere Ansagen zu machen und so dreht sich die Spirale weiter.

Wie hat sich diese Spirale bei Ihnen bemerkbar gemacht?

Medien aber auch der Austausch mit Entscheidungsträgern beanspruchten v.a. um die Weihnachtszeit viel Zeit – ich musste mich etwas schützen, um überhaupt meiner Kernaufgabe in der Pandemiebekämpfung nachkommen zu können. Ich war für den Aufbau des Referenzimpfzentrums hier am Hirschengraben verantwortlich und dann kamen ständig diese Anfragen. Vieles, aber nicht alles, kann man wegbulldozern, aber nicht alles.

Public Health bedeutet, auch für die Gesellschaft zur Verfügung zu stehen. Es wird nicht die letzte Pandemie gewesen sein, aber es wäre schon gut, wenn wir in Zukunft nicht mehr in diesen Teufelskreis geraten würden.

Wir haben auch über das Forschungsprojekt «Corona Immunitas» gesprochen. Läuft das noch?

Das Grossprojekt läuft nach wie vor. Ein wichtiges nationales Projekt, das 40 Studien beinhaltet. In den verschiedenen Wellen haben wir beispielsweise ermittelt, wieviele Leute effektiv in Kontakt mit dem Virus gekommen sind. In Zürich waren es in der ersten Welle drei Prozent, zuletzt 11 Prozent. In der Westschweiz waren es bis zu 21 Prozent.

Von diesen Angaben können wir ableiten, dass gegen 700’000 Personen in der Schweiz eine SARS-CoV-2-Infektion durchmachten. Das waren wichtige Informationen, um weitere Öffnungsstrategien festzulegen. Jetzt kommen die Geimpften hinzu, wo wir dann unterscheiden können zwischen natürlicher Infektion und Antikörpern, die durch die Impfung entstanden sind.

Wir sind bestrebt, Forschung im Dienste der Gesellschaft zu machen, was sich am besten mit dem Begriff «Science to Policy» umschreiben lässt. Wir stellen Behörden Erkenntnisse als Entscheidungsgrundlage zur Verfügung. Ein gutes Beispiel sind die Schulen. Aufgrund dieser Forschungsresultate konnte vermieden werden, dass Schulen in der zweiten und auch dritten Welle generell wieder geschlossen werden mussten. Da konnte die Wissenschaft fundiert zu diesem Entscheid beitragen, während Deutschland, Frankreich oder Österreich andere Wege gegangen sind.

Also ist neben testen, testen, testen vor allem auch Daten sammeln, Daten sammeln, Daten sammeln sehr wichtig?

Es braucht stimmige Daten, die man gut interpretieren kann, die entscheidend sind für Öffnungskonzepte in den verschiedenen Branchen. Beim Reisen ist es besonders wichtig, wie es in den Flugzeugen oder an den Flughäfen ausschaut. Öffnen wir mit Hilfe eines Bauchentscheids oder schaffen wir gute Entscheidungsgrundlagen. Wir sind eines der wenigen Länder, die solche Entscheidungsgrundlagen haben. Aber mit Sammeln allein ist es nicht getan, wir müssen dann mit den Daten auch etwas Sinnvolles machen.

Jetzt können Sie sich auch wieder mehr Ihrem Zentrum für Reisemedizin zuwenden.

Vor Covid-19 waren es bis zu 20’000 «Patienten» pro Jahr, die wir reisemedizinisch betreut hatten. Ganz geschlossen war das Zentrum aber nie. Es gab und gibt auch in der Pandemie immer wieder Gründe, um zu reisen. Jetzt zieht es wieder an. Ausgehend von einem Minimalbestand sind wir jetzt schon wieder daran, gewisse Bereiche hochzufahren. Ich kann mir gut vorstellen, dass es im Sommer wieder richtig anziehen wird.

Wenn’s bei Ihnen wieder anzieht dürfte das auch bei der Reisebranche der Fall sein.

Auf jeden Fall. Unsere Kunden sind nicht diejenigen, die Campingferien in den Vogesen machen – auch wenn es dort sehr schön ist.

Wann wird es wieder normal sein, oder was ist nach der Pandemie wieder normal?

Wenn jemand das Gefühl hat, dass alles so sein wird wie vor Corona, dann wird er sich sehr wahrscheinlich – hoffentlich – täuschen. In den kommenden Jahren werden wir lernen, mit dem Virus zu leben wie mit einem domestizierten Tier. Es wird unser Haustier und wir werden uns immer wieder mal mit einer Variante anstecken, was uns aber nicht mehr viel ausmachen wird, denn wir sind grundgeimpft. Man wird auch nachimpfen.

Wir bereiten uns jetzt auf eine dritte Impfung vor, die auf Mutationen adaptiert sein wird. Dies ist eine Art Auffrischimpfung. Im Alltag werden wir nicht mehr gross beeinträchtigt sein. In diesem Sinn kann man von einer gewissen Normalität sprechen. Und das «hoffentlich» im ersten Satz gibt der Hoffnung Ausdruck, dass wir als Gesellschaft für uns alle doch etwas mitnehmen, sei es zu Hause oder auf Reisen, und damit meine ich den Sinn für globale Verantwortung.

(Kurt Schaad)