«Machen wir die Zukunft zu unserer Zukunft»

INSIDER KOLUMNE von Peter Baumgartner. Der ehemalige Spitzen-Airliner blickt im TRAVEL INSIDE weit voraus und gibt wertvolle Tipps.

Die Sommerferien stehen vor der Tür. Wer reisen kann, der tut es. Jeder möchte ein wenig dem Alltag entfliehen, verständlicherweise. Doch während in vielen Ländern die Corona-Fälle zurückgegangen sind und die Beschränkungen aufgehoben wurden, steigen in anderen Ländern die Zahlen an, und das Leben der Menschen wird wieder reglementiert und eingeengt. Wir leben und arbeiten in Ungewissheit, und das wird auch in absehbarer Zukunft so bleiben.

Natürlich gibt es einen momentanen Aufschwung in der Luftfahrtbranche. Die Ferienzeit zeigt ihre Wirkung. Wir alle bemerken, dass der Himmel über uns nicht mehr völlig leer ist: Immer mehr Flugzeuge ziehen über uns vorbei. Ein herzerwärmender Anblick für Freiheitssuchende – und vor allem für uns Vertreter der Luftfahrt.

All dies sollte uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im weiteren Verlauf des Jahres durchaus wieder etwas ruhiger werden kann. Der Weg zur Erholung ist eine Gratwanderung auf einem kurvenreichen und langen Weg.

Während ich das Beste hoffe, wird immer deutlicher, dass an der «neuen Normalität» für lange Zeit nichts «normal» sein wird. Überhaupt nichts.

Wo führt uns dies hin? Was ist die vielversprechendere Option für unsere Branche?

  1. Wir fügen uns und passen uns den äusseren Gegebenheiten an.
  2. Wir gestalten die Zukunft selbst.

Sie erraten bestimmt, welche Variante meine Stimme bekommt: Ich bin klar für die zweite Option.

Viele in unserer Branche, so beobachte ich, verbringen sehr viel Zeit mit einem regelrechten Profilierungswettbewerb darum, die genaueste Vorhersage für die «neue Normalität» zu machen. Ich muss sagen, dass ich diesen akademischen Schönheitswettbewerb ein wenig leid bin. Eine solch passive Haltung ist billig – und zeugt von mangelndem Verantwortungsbewusstsein.

Wäre es nicht viel effektiver, wenn wir stattdessen all diese Energie bündeln und gemeinsam aktiv daran arbeiten würden, «unsere» neue Normalität selbst zu gestalten?

Jetzt, wo die Nachwehen der bisher grössten Krise der Branche beginnen, haben wir die Gelegenheit, Bilanz zu ziehen, unsere Lehren daraus abzuleiten und konsequent danach zu handeln. Damit wir sicherstellen, dass dies auch die grösste Krise im Geschichtsbuch unserer Branche bleibt.

Natürlich müssen wir ein Auge auf die Aussenwelt haben. Natürlich müssen wir über fundierte Marktdaten verfügen, Risiken und Chancen abwägen und «dem Markt folgen». Aber ich glaube nicht, dass es sehr fruchtbar ist, als Branche eine passive Haltung einzunehmen. Denn im Kern ist das ein wirklich ärgerlicher, reaktiver Ansatz.

So laufen wir Gefahr, kurzfristig zu denken. Uns in operativen oder taktischen Herausforderungen zu verzetteln, anstatt an einem strategischen Gesamtbild zu arbeiten. Wir sollten keine Brände in unserem Vorgarten löschen müssen, wir sollten damit beschäftigt sein, feuerfeste Häuser zu bauen.

Warum betrachten wir die Situation nicht so, als wären wir Start-ups? Nehmen wir eine aktive Denkweise an. Lassen Sie uns die Branche selbst gestalten, denn wir sind die Branche.

Ein paar der Dinge, die mir in Diskussionen mit meinen Kollegen etwas auf die Nerven gehen:

  • Konzentrieren Sie sich nicht ausschliesslich auf «Recovery». Das ist zwar sicherlich eine relevante operative Herausforderung, aber alles andere als strategisch. Konzentrieren Sie sich auf die Zukunft: Das bedeutet, dass Sie nach echter Innovation streben müssen. Stellen Sie alles in Frage. Das ist nicht einfach. Vielleicht ist es in unserer Branche sogar besonders schwierig. Aber es ist unausweichlich. Finden Sie heraus, was «Innovation» wirklich bedeutet – für die Kunden, nicht für Sie. Dann werden Sie wissen, was die Zukunft bringt. Und ja, ich fürchte, für Ihr Geschäftsmodell ist das disruptiv. Denken Sie nicht einmal daran, diesen Fakt zu leugnen.
  • Das Dilemma, mit dem wir konfrontiert sind, ist nicht etwa «renditestarke Geschäftsreisen» versus «margenschwache Freizeitreisen». Das ist nicht nur kurzfristiges Denken, sondern ganz, ganz furchtbar abhängig von externen Faktoren. Das echte Dilemma, vor dem wir stehen: Wir müssen unsere Organisationen von Tag zu Tag am Laufen halten und gleichzeitig unsere Geschäftsmodelle von Grund auf neu überdenken. Wenn wir erfolgreich in die Zukunft gehen wollen, müssen wir Geschäftsmodelle gestalten, die wirklich nachhaltig und belastbar sind, auch in einer unsicheren Welt.
  • Kämpfen Sie sich nicht an Preisgestaltungsfragen ab. Oder daran, was die Konkurrenz tut. Das ist die tägliche Routine Ihres Teams. Kämpfen Sie sich stattdessen an den Bedürfnissen Ihrer Kunden ab. Alles andere wird folgen.
  • Ja, rund um COVID-19 sind überall neue Policies aufgetaucht. Diese Landschaft ist nur schwer zu navigieren, das ist mir bewusst. Wissen Sie warum? Weil Sie passiv auf sie reagieren. Nehmen Sie eine aktive Denkweise an, arbeiten Sie daran, Ihre eigene Politik aktiv zu gestalten. Wenn Sie das nicht tun, werden es andere tun, und das wird mit Sicherheit schlimmer sein. Stehen Sie auf und werden Sie zu einem engagierten und fordernden Partner in der Politikgestaltung, zusammen mit den Behörden – und jenen Leitungsgremien, die endlich auf den Plan treten sollten, um Sie effektiver zu vertreten. Wir brauchen ein Framework, das ist klar – und es ist immer besser, an der Diskussion teilzunehmen.
  • Denken Sie über die notwendigerweise kleine Welt Ihrer eigenen Organisation hinaus. Warum gibt es so wenig fokussierte Zusammenarbeit zwischen den Stakeholdern und Gremien der Branche? Die Wertschöpfungskette ist grösser als Sie. Finden Sie Wege, um zu kooperieren, mitzugestalten und zu konsolidieren. Sowohl horizontal als auch vertikal.

Wir als Branche können etwas zum Besseren verändern. Dazu müssen wir – dringend – unsere eigene enge Sichtweise überwinden. Nur so können wir die Zukunft zu unserer eigenen Zukunft machen.

(Peter Baumgartner)