Ökonom Schelker: «Reisen-Nachfrage kommt zurück, aber das wird noch dauern»

Mark Schelker, Ökonom und Professor an der Uni Freiburg, beantwortet aktuelle Fragen im TRAVEL INSIDE Interview mit Journalist Kurt Schaad.
Mark Schelker, Ökonom und Professor an der Universität Freiburg. © zvg

Mark Schelker, als wir im Frühling zusammen gesprochen hatten, waren Sie, wie wir alle, von der Krise überrascht. Wie nehmen Sie die Krise heute wahr?

Es ist keine Überraschung mehr. Natürlich gibt es zurecht eine gewisse Aufregung bei diesen Zahlen, aber es ist ruhiger als bei der ersten Welle. Was nicht geändert hat, ist der Reflex, in dem Moment etwas zu machen, wo es bereits zu spät ist, statt im Vornherein. Bei exponentiellem Wachstum der Infektionszahlen geht es plötzlich ganz schnell hoch. Mit der verspäteten Beobachtbarkeit der Krankheit sind wir dann mit Massnahmen jeweils zu spät.

Das heisst, wir müssen uns jetzt überlegen, was wir machen, wenn die zweite Welle – hoffentlich bald – gebrochen ist. So wie es im vergangenen Sommer wichtig gewesen wäre, eine Strategie zu haben und zu kommunizieren. Was tun wir, damit nach der zweiten Welle keine dritte unkontrollierte Welle kommt. Wir dürfen es nicht wieder einfach so laufen lassen, also ob das Virus nicht zurückkommen könnte. Es ist mir unverständlich, wie Entscheidungsträger haben sagen können, dass sie von der zweiten Welle überrascht wurden. Die Ausgangslage war doch allen klar. Die Ämter haben ja schon fast gebetsmühlenartig immer wieder vor der zweiten Welle gewarnt, aber offensichtlich ohne sich selbst genügend darauf vorzubereiten.

Aus wirtschaftlicher Sicht heisst das?

Die Unternehmen wissen seit dem Frühling, ob sie sehr anfällig auf das Virus sind oder nicht. Die Frage ist, wie sich die anfälligen Branchen und Unternehmen positionieren, falls die öffentlichen Hilfsgelder nicht so reichlich und schnell oder gar nicht fliessen werden.

Wer hat denn was in dieser Zwischenphase im Sommer nicht richtig gemacht?

Das erste Problem: Wir testen immer noch unsystematisch. Da wir keine saubere Messtrategie haben, können wir die Infektionsdynamik weder sauber abbilden, noch die bestehenden Informationen der unsystematisch erhobenen Infektionszahlen verlässlich interpretieren. Die Infektionszahlen sind so wie wir sie heute messen nicht aussagekräftig.

Im Moment müssen wir immer auf die Hospitalisierungsraten warten, um zu wissen was tatsächlich passiert. Deshalb hat auch Herr Salathé Ende September gesagt, dass es gut ausschaue. Nicht weil er unqualifiziert wäre, im Gegenteil, aber weil er mit den vorhandenen Zahlen kaum auf die tatsächlichen Infektionsdynamik schliessen kann. Das ist ein massives Staatsversagen auf Bundesebene.

Seit Frühjahr haben verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gefordert, dass wir ein sauberes Testregime implementieren und zwar anhand einer wöchentlichen Zufallsstichprobe von vielleicht rund 10’000 Personen. Man würde immer gleich messen und würde dadurch früh sehen, wenn die Infektionen tatsächlich ansteigen. Wir müssen also die tatsächliche Infektionsdynamik von Unterschieden in der Testintensität und Testselektion unterscheiden. Das wäre eine der wichtigsten Massnahmen, um die Sache einigermassen in den Griff zu bekommen.

Das zweite Problem: Wir haben viel zu lange ignoriert, dass eine grosse Anzahl von Infektionen von nur sehr wenigen Personen in ausgewählten Situationen ausgelöst werden. Die sogenannten «Superspreaders» und «Superspreading Events» sind zentrale Faktoren in dieser Pandemie. Die Fahrlässigkeit, mit der das BAG grosse Ansammlungen von Personen in Innenräumen, z.B. Clubs, Bars, etc. zugelassen hat, war doch erstaunlich.

Wieso wird nicht richtig getestet?

Im Moment ist niemand wirklich verantwortlich und alle können sagen, wir haben es nicht kommen sehen. Ich habe keine andere Interpretation. Ich weiss es nicht.

Ein Sample von 10’000 Personen einmal pro Woche zu testen: das ist schon ein ziemlich grosser Aufwand.

Im Vergleich zu allem, was wir jetzt machen ist das Peanuts. Das ist ein logistisches Problem. Es geht nicht darum, es einmal zu machen, sondern wirklich jede Woche. Für diese logistische Grossaufgabe haben wir das Militär, die sind prädisponiert dafür. Da sind halt ein paar Hundert unterwegs. Das ist effizienter, als wenn sie nachträglich in überlasteten Spitälern aushelfen müssen. Die Kosten nicht rechtzeitig zu wissen, wieder zu spät zu sein und in den nächsten ein, zwei Jahren immer hinterherzurennen und mit harten Massnahmen eingreifen zu müssen, sind ein Vielfaches höher.

Die Probleme der Reisebranche oder der Airlineindustrie haben Sie schon bei unserem Gespräch im Frühling richtig voraus gesehen. Nur nützt das jetzt niemandem.

Nein, das nützt leider nichts. Im Moment sieht es nicht danach aus, als ob es eine schnelle Erholung gäbe. Die Unsicherheit ist riesig. Wenn die Leute nicht fliegen wollen und nicht an anderen Orten in Hotels gehen wollen, ist es für die Branche ein längerfristiges Problem. Dass die Reisetätigkeit wieder einmal zurückkommt ist keine Frage. Die Frage ist, wie viele von diesen Unternehmen genügend Schnauf haben, um in den nächsten ein, zwei Jahren mit einem Bruchteil der Umsätze überleben zu können. Das ist ein riesiges Problem. Da wird es massive Marktbereinigungen geben. Die Nachfrage nach Reisen wird zurückkommen, aber das wird noch dauern.

Dann wären wir jetzt bei den Härtefallregelungen

Härtefallregelungen sind etwas kurzfristiges. Gegen eine Pandemie kann man sich nicht privat versichern. Das ist zu gross für eine Versicherung, das kann im Prinzip nur der Staat «versichern». Jetzt ist die grosse Frage: haben wir einen Versicherungsfall für die Reisebranche und auch andere betroffene Branchen, für den der Staat aufkommen will. Was versichert der Staat und was soll er versichern? Härtefallfälle in der kurzen Frist: ja. Da kommt wohl etwas, die Frage ist: wieviel und für wen? Aber kann und soll der Staat in die Zukunft gerichtet einspringen?

Dass über mehrere Jahre die Ausfälle ausgeglichen würden, also beispielsweise 80% der Umsätze, kann ich mir nicht vorstellen. Es wäre auch aus volkswirtschaftlicher Sicht kaum effizient. Das muss ja irgendjemand finanzieren. Wenn nicht heute über Steuererhöhungen, wovon ich abraten würde, dann in der Zukunft. Und es betrifft ja nicht nur die Reisebranche, sondern alle Branchen, die von der Pandemie negativ betroffen sind. Kann und soll mal also die in den nächsten Jahren noch kommenden Verluste ausgleichen? Es wäre echt krass, wenn es einen breiten Bailout für zukünftige und längerfristige Ausfälle geben würde. Das kann ich mir nicht vorstellen.

Also versuchen wir mal einen Blick in die Zukunft zu werfen. Da steht ja immer die Frage nach dem Impfstoff im Raum

Der Impfstoff wird kommen. Gerade haben wir vernommen, dass Pfizer und Moderna unerwartet gute Resultate in einer dritten Phase erreicht haben. Pfizer meint, dass sie dieses Jahr 50 Millionen und nächstes Jahr 1,3 Milliarden Dosen produzieren können. Aber reicht das? Wenn wir weltweit Impfstoff verteilen und genügend Immunität erreichen möchten, damit sich das Virus nicht weiterverbreiten kann, dann müssen wir wohl mindestens die Hälfte der Menschen mit zwei Impfdosen ausstatten müssen. Das sind dann 8 Milliarden Dosen.

Das ist auch aus Sicht der Reisebranche wichtig: Denn wenn wir reisen wollen, reicht es nicht, in der Schweiz sicher zu sein. Aber bis das soweit ist, geht das noch ziemlich lange. Zum einen geht es darum einen Impfstoff zu finden, da wird es wohl mehrere geben. Aber Verteilen bleibt ein Riesenproblem. Die Immunisierung ist also am Horizont, aber wir reden hier von einer Zeit von eineinhalb bis zwei Jahren bis genügend Impfstoff vorhanden ist und der Impfstoff kollektiv genügend Schutz bietet.

Wenn ich das richtig verstehe: Ihrer Meinung nach kann man frühestens in eineinhalb Jahren damit rechnen, ein Leben wie vor Corona führen zu können.

Eigentlich eher ein Leben mit viel weniger Corona. Man wird immer noch an Covid 19 erkranken können. Es wird die Impfung geben, die Corona weniger häufig auftreten lässt und es wird sicher auch bessere Therapiemöglichkeiten geben. Solange das Virus nicht dramatisch mutiert, wird es eine Normalisierung des Lebens geben.  Wir reden aber nicht von 2021 sondern wohl frühestens von 2022. Ein weiterer Lichtblick sind die neuen und einfacheren Testmethoden. Ein breiter Einsatz von einfachen Tests, die wir zu Hause machen können, wird unser Leben dramatisch vereinfachen und vieles wieder möglich machen. Aber auch hier sind wir noch nicht weit genug.

In Verbindung mit der gegenwärtigen Impfeuphorie könnte sich mancher Unternehmer, dem das Wasser am Hals steht, sagen: Durchhalten bis die Impfung da ist.

Wenn das so einfach gehen würde, dann ja. Aber können stark betroffene Unternehmen einfach so warten, bis wir alle geimpft sind, ohne das eigene Businessmodell anzupassen? Ich glaube nicht. Daher wird es eine schmerzhafte Bereinigung geben, darum kommen wir nicht herum. Es wird Konkurswellen geben. Auf individueller Ebene, für alle Leute die davon betroffen sind, ist das verheerend. Das schleckt keine Geiss weg.

Aber wir können nicht einfach die bestehende Businessmodelle vor Corona über die Zeit einzufrieren und meinen, der Bund verteile einfach Geld und danach sei alles wieder gut. Das bekommen wir so nicht hin. Es ist wichtig für viele Unternehmen, die Realitäten zu sehen. Viele werde zumachen müssen. Viele, die nicht im richtigen Businessmodell sind, müssen entweder dramatisch verändern, andere Businesses pushen, innovativ sein. Wir befinden uns in der Phase der kreativen Zerstörung. Das ist ein extrem schmerzhafter Prozess. Gleichzeitig haben wir gesehen: in vielen Branchen ist Innovation enorm schnell gegangen. Wie zum Beispiel das Entwickeln von unterschiedlichen Impfstoffen: das hat es in dieser kurzen Zeit noch nie gegeben. Das hat einen unglaublichen Innovationsprozess in Gang gesetzt.

Man sollte die Innovationskraft von Individuen und von freien Märkten niemals unterschätzen. Die Krise wird an Innovation und Anpassung, und nicht an staatlicher Verwaltung gesunden. Aber es werden auch viele staatliche Gelder fliessen müssen. Es wird Arbeitslose geben. Es wird Umschulungen geben. Es wird ganz viel Neuorientierung brauchen. Dafür haben wir die Arbeitslosenversicherung, die grosse Summen auszahlen wird. Wir werden über längere Zeit hohe Staatsausgaben haben, mehr als sonst. Gleichzeitig werden die Einnahmen einbrechen und es wird grosse Ungleichgewichte geben. In dieser Situation muss man überlegen, wer unbedingt vom Staat gerettet werden muss, aber es wird für viele keine Rettungsaktion geben.

Die langen und jetzt wieder kurzen BAG Quarantäne-Liste haben diesen Sommer viel zum Verlustgeschäft der Reisebranche beigetragen.

Dass das BAG um die extrem limitierte Wirkung gewusst hat, aber dennoch auf Kosten der Bevölkerung und Wirtschaft eigene Ziele verfolgt, ist eigentlich ein Skandal. Das scheint aber niemanden wirklich zu kümmern.

Die Branche will jetzt gegen die Eidgenossenschaft klagen.

Das sollen sie machen. Wenn es keinen zwingenden sanitären Grund gibt, hat das BAG mit Interventionen dort eigentlich nichts zu suchen.

Sie haben von Staatsversagen gesprochen und dass eine Normalisierung frühesten 2022 zu erwarten sein wird. Also müssten bis zu diesem Zeitpunkt jede Woche 10’000 Menschen im Rahmen der Beherrschung der Pandemie getestet werden?

Diese 10’000 Zufallstests sind wichtig als Basisinfrastruktur zur Messung der Pandemiedynamik und zur Navigation bis die Gefahr einer weiteren Welle klein ist. Das zweite Element einer Teststrategie sind Schnelltests zur Heimanwendung, also dass sich die Menschen selber testen können. Auch wenn diese Tests nicht ganz so präzise sind wie die PCR Test, hilft das schnelle testen zu Hause zu wissen, ob ich das Virus wahrscheinlich habe oder nicht.

Wir können das dann mehrfach pro Wochen machen. Damit wird Eigenverantwortung wieder möglich. Wir sind extrem langsam bei der Zulassung solcher Tests. Tests sind einer der Schlüssel für eine gewisse Normalisierung vor 2023. Zusammengefasst müssen wir a) wissen, wie die Pandemiedynamik aussieht, das braucht eine Anpassung der Teststrategie, und b) individuell wissen, ob wir für andere eine Gefahr darstellen. Unsere Behörden sollten zügig Tests zulassen, auch wenn sie nicht perfekt sind. Zudem werden die Tests bei grossem Absatz schnell besser und auch günstiger werden.

Im Frühling haben sie gesagt: fertig mit der ausserordentlicher Lage,  Verantwortung zurück zu den Kantonen. Jetzt ist das so, scheint aber nicht so gut zu funktionieren.

Nun ja, wir sind immer noch in der besonderen Lage. Hier hat der Bund viele Kompetenzen und er muss aber die Kantone konsultieren. Der Bund wie auch die Kantone haben jetzt teilweise gemeinsame Zuständigkeiten, aber es bleibt schwierig, die Verantwortlichkeiten klar zu erkennen. Das Klären der Verantwortung ist aber extrem wichtig. Denn nur Verantwortung schafft Anreize für schnelles, ausgewogenes und effizientes Handeln. Diese Klärung muss schnell geschehen. Zudem haben wir sehr viel gelernt.

Gewisse Kantone waren von der ersten Welle fast nicht betroffen und haben das möglicherweise unterschätzt. Inzwischen hat beispielsweise der Kanton Schwyz seinen Superspreading-Event mit der Jodlerveranstaltung hinter sich und es dürfte inzwischen jedem kantonalen Gesundheitsdirektor klar sein, wieviel Verantwortung er hat. Im Moment ist immer noch etwas das Schwarzpeterspiel zwischen Bund und Kantonen im Gang. Lernen kostet etwas, aber im Föderalismus wird viel und schnell gelernt. In dieser Situation geht es nicht darum, alles perfekt machen zu wollen, sondern dass wir sehr schnell lernen.

Wenn der Bundesrat allein entscheiden müsste, mit einem BAG, das über weite Strecken überfordert ist, dann bringt das kein schnelles Lernen und Lernen zu einem hohen Preis, weil immer das ganze Land den gleichen Lernprozess macht. Das heisst aber wiederum nicht, dass die Kantone alles entscheiden müssen. Contact tracing könnte beispielsweise auf Bundesebene angesiedelt sein. Aber Entscheidungen, ob die Restaurants und Schulen offen bleiben oder geschlossen werden, sollten Kantone je nach ihrer Betroffenheit entscheiden können. Wenn der Bund einen generellen Lockdown beschliesst, dann ist das für die einen zu spät und die anderen zu früh. Daher braucht es schnell Klarheit darüber, wie die Verantwortlichkeiten dauerhaft aussehen. Es soll sich niemand verstecken können. Dann wird Föderalismus zum zentralen Bestandteil einer effizienten Anti-Corona-Strategie.

Wie kann man das Schwarzpeterspiel so schnell als möglich beenden? «Man», wer ist «man»?

Ich weiss nicht, wer «man» ist. Wir haben einen Föderalismus, der eigentlich extrem gut funktioniert. Diesen Föderalismus hat aber der Bund als erstes im Frühling eliminiert und die Entscheidungshoheit zentralisiert. Jetzt mussten die Kantone beim Lernen noch nachholen. Das ist natürlich unschön, aber verständlich. Ich verstehe auch, dass der Bund anfänglich die Führung übernahm. Jetzt muss sich aber der Föderalismus mit glasklaren Verantwortlichkeiten schnell einpendeln. Etwas einfach illustriert, könnte man sagen: Dinge, bei denen regionale Aspekte und Grenzen keine Rolle spielen, müssen auf Bundesebene angesiedelt werden. Contact tracing, Testen, da sind Kantone unwichtig, da sind grosse Kapazitäten und produktive Effizienz wichtig. Ist die Betroffenheit der Kantone sehr unterschiedlich und die Effekte regional klar eruierbar, gehört das in die Verantwortung der Kantone. Wahrscheinlich müssten dicht besiedelte und urbane Regionen früher andere Massnahmen ergreifen als ländliche Regionen. Man muss das Rad nicht neu erfinden. Wenn die Verantwortungen einmal klar sind, müssen noch die Finanzflüsse geklärt werden und dann: go for it.

(Interview: Kurt Schaad)