Ökonom Schelker: «Staatswesen hat versagt»

Mark Schelker, Ökonom und Professor an der Uni Freiburg, beantwortet Fragen zu einem Jahr Corona von Journalist und TI-Autor Kurt Schaad.
Mark Schelker, Ökonom und Professor an der Universität Freiburg. © zvg

Schon zwei Mal hat Publizist Kurt Schaad für TRAVEL INSIDE in Verbindung mit der Corona-Krise mit dem Ökonomen Mark Schelker ein Interview geführt. Zu Beginn der Krise während des ersten Lockdowns und während der zweiten Welle. Bereits im letzten Frühjahr hat er eine fehlende Teststrategie moniert und schon im Herbst den Selbsttest gefordert.

Jetzt, während des zweiten Lockdowns und mit dem Anlaufen der Impfkampagne hat sich Kurt Schaad mit dem Professor für Finanzwissenschaften an der Universität Freiburg und Lehrbeauftragten an der Universität St. Gallen ein drittes Mal unterhalten.


Mark Schelker, vor knapp einem Jahr haben wir uns darüber unterhalten, wie weit das Virus Kollateralschäden in der Wirtschaft zur Folge hat und ob der wirtschaftliche Schaden grösser sein könnte als derjenige des Virus selbst.

Vor einem Jahr hat man die Reaktion der Leute auf das Virus unter- und den Effekt der Massnahmen überschätzt. Heute weiss man besser, was die Intervention macht und was das Virus selbst bewirkt. Das Virus selbst macht, dass die Leute weniger interagieren und konsumieren, die Massnahmen vergrössern diesen Effekt einfach noch. Den Massnahmen steht aber auch ein direkter Nutzen gegenüber.

Was wir allerdings noch immer zu wenig systematisch machen, ist, die Kollateralschäden, also die indirekten Wirkungen, in unser Denken miteinzubeziehen. Wir bedenken immer noch zu wenig, was beispielsweise die Auswirkungen der Pandemie und unserer Gegenmassnahmen auf die Lebensqualität der Menschen und deren langfristigen Effekte sind. Zum Beispiel bei der jungen Generation. Immerhin werden nicht mehr leichtfertig Schulen geschlossen. Obwohl auch die jungen Menschen zur Verbreitung des Virus beitragen. Das ist meines Erachtens ein Fortschritt.

Der Bundesrat sei immer noch im Blindflug, konnte man kürzlich einer Schlagzeile entnehmen.

Das mit dem Testen funktioniert immer noch nicht. Wir haben immer noch kein systematisches Testregime. Wir messen die Pandemie immer noch nicht mit einer eigenen Teststrategie und sind damit immer zu spät mit unseren Massnahmen.

Aber der Kanton Graubünden geht doch in diese Richtung mit seinen Massentests.

Man hätte schon viel früher mit grossen Massentests anfangen sollen, um die Clusters sofort zu finden. Um die Asymptomatischen zu finden, muss man im Prinzip so viele wie möglich immer wieder testen.

Massentests sind gut, wenn wir immer noch sehr viele Ansteckungen haben und das Tracing nicht funktioniert. Und das Tracing funktioniert bei hohen Fallzahlen eben nicht richtig. Aber solange wir das nicht systematisch machen, stossen wir auch hier an Grenzen. Das Potenzial einer durchdachten Teststrategie wäre enorm gross, wird aber immer noch nicht genutzt.

Bundesrat Alain Berset sagt, dass wir nicht 4 Millionen Leute testen können.

Dazu müsste man tatsächlich auch gut vorbereitet sein. Bei unserem Leistungsausweis in Bezug auf das Testen ginge das aus dem Stand wohl kaum. Aber was geht, wären Zufallstests mit jeweils 10 bis 20 Tausend Tests pro Woche. Das würde uns zeitnah und in der immer gleichen Qualität Auskunft über den Stand der Pandemie geben. Aber auch da hat der Staat bis jetzt nichts unternommen. Die Verweigerungshaltung unserer Entscheidungsträger ist für mich kaum nachvollziehbar.

Was ist daraus der Schluss: Ist es ein Staatsversagen, können wir Krise nicht?

Ich finde schon, dass wir es in einigen Dimensionen mit Staatsversagen zu tun haben. Wir haben ganz wichtige Sachen verpasst. Das Einzige, was wir konnten, war im Frühling früh einen Lockdown zu verhängen. Zusammen mit den Europäern. Wir haben es nicht geschafft, Länder zu kopieren, die schon Erfahrung mit Pandemien hatten. Der Blick nach Asien blieb zu lange verstellt, weil wir sagten, dass dies nicht lupenreine Demokratien seien.

Aber darum geht es gar nicht. Es geht um Teststrategien, um Tracing, und wie man mit einem solchen Virus effizient umgeht. Und so haben wir es immer wieder verpasst, wenigstens eine konsistente Teststrategie zu entwickeln. Eine Teststrategie also, die die Informationsgrundlagen für die politischen Entscheidungen erstellt und nicht primär auf das Individuum zielt.

Eine derartige Strategie müsste komplementär zu breitem Testen und kostenlosem Zugang zu Tests erfolgen. In der ersten Welle hatten wir vor allem Glück, dass der Frühling vor der Türe stand und die Zahlen schon wieder gesunken sind. Der Lockdown hat bewirkt, dass der R-Wert unter 1 geblieben ist. Ähnliches sehen wir jetzt auch in der zweiten Welle, auf die wir viel zu spät reagiert haben. Der Lockdown-Entscheid kam, als die Pandemie schon wieder zwei Monate ziemlich gewütet hatte.

Der Lockdown hat sicher seine Wirkung gezeigt, aber wir wissen immer noch nicht, welche Massnahmen nun genau die Wirkung ausmachen. Wir wissen es einfach nicht. Und gleichzeitig sind wir Amateure beim Impfen. Wir waren Amateure beim Beschaffen. Wir haben keine kommunizierte, keine erklärte Strategie. Wir sind immer noch planlos, fast gleich planlos wie zu Beginn. Also ja, ich glaube schon, dass unser Staatswesen auf weiten Strecken versagt hat.

Spricht jetzt der Ökonom, der sagt, dass wir in ein gröberes wirtschaftliches Problem mit Arbeitslosigkeit und Konkursen geraten? Spricht da der Ökonom, wenn er das kritisiert, was er eben kritisiert hat?

Da spricht immer der Ökonom. Beim Impfen kritisiert er, dass man bei den Impfstoffen gespart hat und nicht von jedem Stoff genug bestellt hat, um die gesamte Bevölkerung damit zu impfen. Dass wir das nicht früh machten und sofort grosse Mengen bestellten. Natürlich kauft man dann auch solche, die nichts bringen werden.

Der Kosten/Nutzen-Vorteil ist aber gigantisch mit dieser Strategie. Das haben US-Ökonomen schon im letzten Frühsommer argumentiert. Das haben wir verhauen. Das hat auch die EU verhauen. Ausnahmen waren beispielsweise Israel, Kanada, und Grossbritannien.

Und die rein wirtschaftlichen Entscheidungen?

Ich muss gestehen, da war ich zu pessimistisch. Ich bin erstaunt, wie gut es gelang, Humankapitalkosten über Kurzarbeit abzuwälzen und zu bewirken, dass längerfristig weniger Firmen aufgeben mussten und nicht Leute entlassen haben. Der allergrösste Teil der Arbeitnehmer/Arbeitgeber-Beziehungen konnten gerettet werden. Wir werden möglicherweise auch ein paar Zombiefirmen haben, aber das ist vernachlässigbar.

Unsere Standardinstrumente funktionieren gut, aber es wird immer schwieriger, noch länger eine derartige Wirtschaftspolitik aufrecht zu erhalten. Es ist die richtige Politik, aber die Priorität müsste sein, dass wir durch breites und schnelles Impfen, hier so schnell wie möglich herauskommen. Ansonsten kommen trotzdem noch schwere wirtschaftliche Bereinigungen auf uns zu. Die Frage ist, wie lange wir es noch aushalten können.

Diese Frage interessiert vor allem auch die Reisebranche. Dort sollte ja schon lange die Härtefallregel zum Tragen kommen, was offensichtlich immer noch nicht richtig funktioniert.

Die Härtefallregel ist eines von vielen Instrumenten. Allerdings ist es neu und nicht erprobt. Bei den Härtefällen kommen wir nicht darum herum, zu entscheiden, was Härtefalle überhaupt sind. Das ist eine schwierige Abgrenzung. Solange es Härtefälle gibt, wird es solche geben, die nichts bekommen, obwohl sie sich selbst als Härtefall sehen. Weil da jeder Kanton noch seine eigenen Regeln aufstellt, fällt es schwer, zu beurteilen, wo ein Härtefall vorliegt und wo nicht. Zudem führen diese unterschiedlichen Definitionen zu Wettbewerbsverzerrungen.

Interessant ist allerdings, dass die durchschnittlichen Individualeinkommen im letzten Jahr erstaunlich wenig gesunken sind, obwohl wir in einer gigantischen Krise stecken. Aber natürlich geht es hier um Existenzen und wir hätten einiges schneller und grosszügiger handhaben sollen. Aber es ist nicht so, dass man die Leute im grossen Stil im Stich gelassen hätte.

Sie sehen, ich bin auf der finanzpolitischen Seite deutlich weniger kritisch als auf der gesundheitspolitischen Seite. Finanzpolitisch haben wir die Sache vergleichsweise gut im Griff. Da waren wir mit unseren Standardinstrumenten der Wirtschaftspolitik auch gut vorbereitet. Das können wir, weil wir die Instrumente wie beispielsweise die Kurzarbeit seit Ewigkeiten kennen.

Immerhin verteilen Sie nicht nur schlechte Noten.

Schlechte Noten gibt es für das Pandemiemanagement, das dagegen funktioniert nicht richtig. Darunter leiden viele Branchen, aber besonders stark die Reisebranche.

Effiziente Strategien im Umgang mit der Pandemie wären gerade für sie speziell wichtig gewesen. Eine solche müsste auf verschiedenen Säulen ruhen. Zum einen braucht man früh genug ein Verständnis der Pandemie, indem man misst, also testet. Zum anderen braucht es Material: Masken, Kittel, Reagenzgläser, Spritzen. Vieles davon hatten wir zu Beginn nicht in ausreichender Menge – kann passieren. Gelöst haben es die Märkte in kürzester Zeit, nicht die Politiker.

Weiter sollten auch Individuen in der Lage sein, Verantwortung zu übernehmen. Hierfür wären neben Hygienemassnahmen und Masken Speichelschnelltests ideal. Warum sind diese noch immer nicht zugelassen? Man könnte sich selbst regelmässig testen. Damit wäre auch die vielzitierte Selbstverantwortung wieder besser möglich. Eine letzte Säule sind dann die Impfstoffe. Auch hier haben die Schweiz und die EU bei der Beschaffung versagt.

Es geht dabei aber auch um noch nicht endgültig gesicherte Fakten über Langzeit- und Nebenwirkungen der Impfstoffe.

Swissmedic und die politischen Entscheidungsträger haben sich anfänglich so verhalten, als ob wir keine Krise hätten. Es geht aber um eine ziemlich offensichtliche Abwägung: Das Nichtzulassen oder die Verspätungen bei der Zulassung und beim Impfstart kosten Leben, während die Risiken doch relativ überschaubar sind.

Daher würden verantwortungsvolle Entscheidungsträger schnell grosse Mengen an Impfstoff besorgen und diesen so schnell als möglich zugänglich machen. Dabei müssten sie das Risiko eingehen, einen nicht perfekten Impfstoff erworben zu haben. In einer Krise braucht es diese Flexibilität. Aber aus irgendeinem Grund haben Entscheidungsträger mehr Angst davor, dass ein Wirkstoff nicht absolut zuverlässig schützt, als dass durch einen verspäteten Impfstart Menschen ungeschützt bleiben und in grosser Zahl weiterhin am Virus sterben.

Wenn man einen Wirkstoff hat, der nicht 100prozentig schützt, dann muss man sich halt trotzdem für ihn entscheiden, auch wenn er nicht totale Sicherheit, aber mehr Lebensjahre garantiert. Das ist immer besser, als wenn man aus Angst vor einer Entscheidung dann halt gar nicht oder zu spät entscheidet. Natürlich ist eine solche Entscheidung unangenehm. Da müssen Politiker wahnsinnig viel aushalten. Ich möchte diesen Job nicht! Aber sie haben ihn gewollt und jetzt sollen sie ihn machen.

Ins gleiche Kapitel geht auch die Befürchtung, dass man bei der Prüfung von Härtefällen ungerechtfertigtes Geld verschenken könnte.

Diese Haltung zielt aber am Problem vorbei: Wenn 10 Betrüger wegen falscher Angaben unrechtmässig Geld bekommen, dann kann man das in einer derartigen Krise in Kauf nehmen. Wichtig ist, dass die 90 Rechtschaffenen das Geld korrekt und vor allem schnell erhalten. Das ist besser, als wenn gar niemand das Geld zur rechten Zeit bekommt.

Mit den Selbsttests ist es dasselbe. Nur weil ein paar Wenige einen positiven Selbsttest negieren könnten und trotzdem zur Arbeit gingen, ohne dass das BAG hier eingreifen kann, heisst das noch lange nicht, dass nicht die grosse Mehrheit bei einem positiven Selbsttest sofort in Isolation gehen würde. Denn wer möchte schon wissentlich jemanden anstecken. Auch hier muss man in Kauf nehmen, dass es neben 10 Unvernünftigen auch 90 Vernünftige gibt, die selbstverantwortlich reagieren würden, wenn sie es denn nur könnten.

Das heisst, in der Krise darf man bei Entscheidungen nicht eine 100-prozentige Sicherheit anstreben wollen.

Genau. Manchmal sind schnelle Entscheidungen erforderlich, die man vielleicht auch wieder korrigieren muss. Entscheidungen, die auch immer wieder Mut und eine offene und transparente Kommunikation verlangen und die nicht primär von der Angst geprägt sind, bei den nächsten Wahlen nicht mehr gewählt zu werden.

(Interview: Kurt Schaad)