
Die Studie «Direkt durch den Kanaltunnel – realistisch oder illusorisch?» veröffentlichte das Autorenkollektiv Kurt Metz, Peider Trippi und Kaspar P. Woker am 27. März 2025.
Dieses stiess gemäss den Autoren auf reges Interesse und führte zu konstruktiven Reaktionen. In der Zwischenzeit meldeten sich die potenziellen Akteure zwischen London und dem europäischen Festland mit weiteren Ankündigungen.
Nun folgt ein Update der Studienautoren, welches zwar auf dem ursprünglichen Text basiert, jedoch aufgrund der dynamischen Entwicklungen aktualisiert und stark ergänzt wurde.
«Mittlerweile kommen wir zum Schluss, dass das Projekt einer direkten Zugverbindung zwischen der Schweiz und London aus einer Vielzahl von Gründen chancenlos ist», sagt das Autorenkollektiv.
Das Projekt auf einen Blick
Das Projekt einer direkten Bahnverbindung von der Schweiz nach London wird seit 2023 engagiert diskutiert und darüber in Publikumsmedien, Social Media und der Fachpresse lebhaft berichtet. Die Recherche von Metz, Trippi und Woker zeigt aus verschiedenen Blickwinkeln, welche Anforderungen ein Angebot Schweiz – London mit dem Zug ohne Umsteigen verlangt und ob es sich als solches in absehbarer Zeit mit vertretbarem Aufwand realisieren lässt.
London ist heute von der Schweiz aus nur mit einem Bahnhofswechsel in Paris zu erreichen und alternativ nur mit mehrmaligem Umsteigen via Lille Europe.
London St. Pancras Highspeed (HS1 Limited), Besitzerin und Betreiberin des internationalen Bahnhofs, plant die Verdoppelung dessen Kapazität. Getlink S.E., die Besitzerin und Betreiberin des Kanaltunnels, will zusätzliche Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) zum bisher einziger Anbieter Eurostar motivieren, neue Bahnverbindungen auf den Kontinent zu eröffnen.

Das mögliche Angebot
Die angestrebte Fahrzeit zwischen Basel und London soll ungefähr 6 Stunden betragen. Um ein kundengerechtes Angebot zu bieten, sind mindestens zwei Abfahrten je Tag und Richtung vorzusehen. Einzurechnen sind in der Süd-Nord Richtung die Kontrollen der Fahrausweise, der Pässe und der britischen Einreisebewilligung (ETA) sowie Sicherheits- Check für Personen, Gepäck und Zollkontrolle. Dieses Vorgehen entspricht demjenigen an Flughäfen, wird aber im Zeitvergleich zwischen Bahn- und Flugreise oft ausgeblendet.
Eine Direktverbindung von Basel nach London St. Pancras International bedingt somit den Bau eines ‘sterilen’ britischen Terminals in Basel für diese Kontrollen. Auf der gesamten Fahrzeit von sechs Stunden durch Frankreich und den Kanaltunnel bleiben die Zugtüren für Passagiere geschlossen, denn nach Durchlaufen der Kontrollen in Basel befinden sich die Reisenden zollrechtlich im Vereinigten Königreich.
Ein kommerzieller Unterwegs Halt mit Zustieg könnte nur über den bestehenden Terminal in Lille-Europe oder einen neu zu erstellenden ‘britischen Terminal’ unterwegs erfolgen.
Das Rollmaterial
Somit wird die Nonstop-Fahrzeit zwischen Basel und London in einem Direktzug mit mindestens sechs Stunden (allenfalls ab Zürich mit sieben Stunden) die längste Tagesfahrt in Europa mit für die Fahrgäste geschlossenen Türen sein7.
Dies stellt besondere Herausforderungen an die Innengestaltung des Rollmaterials:
- Alle Passagiere müssen End-to-End reisen, fast ausnahmslos mit viel und sperrigem Gepäck (Grosskoffern, Kinderwagen, Sportgeräte, Velos etc.). Entsprechend grosszügig sind die Stauräume zu planen ebenso die Plätze für PMR-Reisende.
- Alle Passagiere werden einmal (oder mehrmals) die Toiletten benützen. Entsprechend ist deren Zahl und Grösse zu planen inklusive Spülwasservorrat und Fäkalientanks.
- Alle Passagiere werden sich während der Fahrt verpflegen (mitgebrachtes Take-away oder an Bord gekaufte Mahlzeiten und Getränke). Entsprechend viel Abfall fällt an.
- Der Zug muss auch deshalb während der Fahrt gereinigt werden, was Abstellräume für Reinigungsgeräte und Sitzplätze für das Personal bedingt.
- Abgetrennte Retablierungs- und Gepäckstauzone für das Catering-Personal sind notwendig.
Die heute durch den Kanaltunnel verkehrenden Eurostar-Kompositionen sind für Fahrzeiten von maximal 4½ Stunden (Amsterdam – London) ausgelegt und genügen daher diesen Anforderungen an eine Langstreckenfahrt nicht.
Die Investitionen in das Terminal in Basel, die für die Langstrecke ausgerüsteten Züge und die Betriebskosten der Verbindung mit sehr hohen Trassenpreisen auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken führen zu teuren Billettpreisen, so die Studienautoren.
Dem gegenüber steht ein verhältnismässig bescheidenes Fahrgastaufkommen, das kommerziell die Führung nur eines Zugpaars pro Tag rechtfertigt; zusätzliche Züge müssten subventioniert werden.
Die Infrastruktur
In Basel SBB ist eine Infrastruktur für Check-in, Zoll, Pass- und Sicherheitskontrollen und deren Personal sowie Aufenthaltsmöglichkeiten für bis zu 600 wartende Passagiere vorzuhalten. Kiosk, Zollfrei-Geschäfte, Catering, Kinderzone und Toiletten gehören dazu. Für Fahrgäste der teuersten Kategorien und Teilnehmende von Vielreise-Programmen ist eine bediente Lounge bereitzustellen.
Zumindest ein 420 m langes Gleis mit Perron auf Einstiegshöhe ist bereitzustellen und aus Sicherheitsgründen einzuzäunen oder mit anderen Massnahmen zu schützen. Eine derartige Bahnsteigkante liesse sich in Basel SBB wahrscheinlich im noch bestehenden französischen Bahnhofsteil knapp realisieren, so die Autoren.
Eine bis zwei Kompositionen würden in Basel übernachten. Dies bedingt Gleise für Reinigung, Kleinunterhalt und das Abstellen. Für den Grossunterhalt und Reserven müssten von den Zugbetreibern im Raum London entsprechende Anlagen vorgehalten werden.
Depot und Wartungsanlage von Temple Mills, der einzigen heute für kanaltunneltaugliches Rollmaterial, sind zwar nicht voll ausgelastet, doch Eurostar und die möglichen neuen Betreiber kämpfen bereits im Rahmen des freier Netzzugang um die noch vorhandenen Gleis- und Wartungskapazitäten. Möglich wäre auch der Bau eines neuen Wartungs- und Unterhaltszentrum für den Grossunterhalt in Frankreich.
Ein ernüchterndes Fazit
Die Bestellung und Auslieferung von neuem, kanaltunnelfähigem Rollmaterial, der Bau des Terminals inklusive einem 400 Meter langen, sicherheitsmässig abgeschlossenen Gleises, der mit drei Staaten organisatorisch und rechtlich zu vereinbarenden Abkommen (inklusive Abstimmung im Schweizer Parlament) dürften bis in die Mitte der 2030er Jahre dauern, erläutern Merz, Trippi und Woker in ihrer Analyse.
Technisch ist mit entsprechend grossem Aufwand nahezu alles realisierbar. Politisch, wirtschaftlich und rechtlich sieht es im Fall der anvisierten direkten Zugverbindung zwischen der Schweiz und London laut den Autoren anders aus. Der Markt für (zu) lange Bahnreisen am Tag zu Preisen in der Grössenordnung des dreifachen eines Flugs mit Gepäck sei zudem beschränkt. Die Autoren sind daher zum Schluss gelangt, dass das Projekt Schweiz und London chancenlos ist.
Ob zudem heute ein politisch gewolltes Prestigeprojekt wie «Schweiz – London direkt per Bahn» angesichts der hohen Investitionen und von bedeutenden Betriebszuschüssen durch die öffentliche Hand sinnvoll und zeitgemäss ist angesichts der Finanzlage des Bundes und der SBB, lasen die drei Fachautoren Kurt Metz, Peider Trippi und Kaspar P. Woker offen. (TI)