Thomas Stirnimann: «Der Verlust wird richtig gross»

Thomas Stirnimann, CEO Hotelplan Group, im Interview mit TRAVEL INSIDE Journalist Kurt Schaad über die aktuelle Situation und zu den derzeit brennenden Themen.
Thomas Stirnimann, CEO Hotelplan Group

Thomas Stirnimann kennt beruflich nur die Reisewelt. Im April 1978 wurde er als Lehrling bei Kuoni im Glattzentrum angestellt. Bei Kuoni schaffte er es ins Top-Management, um dann 2012 bei der Hotelplan-Gruppe die Geschäftsleitung zu übernehmen, mit dem Ziel, die Migros-Tochter wieder in die schwarzen Zahlen zu führen.


Thomas Stirnimann, Sie wurden eigentlich touristisch sozialisiert – zu einer Zeit, als man im Reisegeschäft noch richtig Geld verdienen konnte.

Ja. Damals war das Reisegeschäft positiv behaftet. Es gab keine Fragen nach Overtourism, CO2, Nachhaltigkeit. Es war exklusiver, auch teurer. Man musste ins Reisebüro kommen, um zu reservieren. Die Reservation von Flügen geschah per Telefon. Lufthansa, Air France, Alitalia, Swissair etc. – ich kannte alle Airlinevertreter über den Draht und hatte ein gutes Einvernehmen. Das Tarifsystem war einfach und klar. Die Tarife waren in einem Buch einsehbar. Ich kannte die meisten Tarife auswendig. Als Erstjahrstift musste ich die Flugtickets von Hand ausstellen. Heute ist das nicht mehr vorstellbar. Ist lange her aber so lange auch wieder nicht.

Tönt fast so, als ob Sie bedauern, dass wir diese Zeiten nicht mehr haben.

Wie sagt man so schön: die Vergangenheit ist das einzige Paradies, aus dem einen niemand vertreiben kann. Es war auf jeden Fall spannend. Natürlich war nicht alles gut oder besser, aber die Grundstimmung war positiv. Es ging vorwärts. Dann kam PARS, das erste elektronische Reservierungssystem, welches die Airlines gemeinsam auf den Markt gebracht hatten. Es gab noch keinen Krieg zwischen den GDS und den Airlines.

Man konnte tatsächlich Geld verdienen und jede Leistung wurde effektiv honoriert. Es war ein faires und partnerschaftliches Miteinander. Dem darf man schon nachtrauern. Das ist heute nicht mehr gegeben. Es schaut jeder nur noch auf sich selbst – ohne Rücksicht. Das ist nicht gut. Man hat doch einen gemeinsamen Kunden. Der müsste im Fokus stehen. Da gäbe es auch heute durchaus noch Möglichkeiten, das so zu gestalten. Das ist früher eine Branche gewesen. Natürlich hat es auch Auseinandersetzungen gegeben. Aber man war irgendwie ein Team mit einem Ziel und einer Vision, nämlich vielen Leuten eine schöne Zeit zu verschaffen, Ferien zu organisieren. Es war super.

Visionen sind heute etwas schwieriger.

Ja. In der Coronazeit etwas sehr Schwieriges. Es gibt keine Planbarkeit. Unser Geschäft braucht eine berechenbare Grundlage. Wir brauchen das, um die Produkte herzustellen und zu vermitteln. Das braucht auch der Kunde, der sich hoffentlich langfristig mit einer grossen Reise auseinandersetzt, diese recherchiert und dann 10 Monate im Voraus bucht und sich darauf freut. Leuten, die jetzt ihre Australienreise planen möchten, können wir nicht wirklich helfen. Es ist alles völlig unberechenbar. Wir haben keine Kristallkugel. Alles steht auf sehr wackligen Beinen mit täglich ändernden Regeln, Vorschriften, Vernehmlassungen und Anordnungen, die jedes zarte Pflänzlein wieder vertrocknen lassen.

Krisen seien auch Chancen, sagt man. Wo sehen Sie für sich die Chancen?

Da kommt die alte Romantik wieder. Ich wünsche mir, dass Reisen, ob lange Reisen, Städtereisen, Badeferien, dass Reisen wieder einen Wert bekommen. Dass es nicht nur darum geht möglichst billig und immer alles verfügbar zu haben. Wenn es diesbezüglich wieder eine Besinnung gäbe, fände ich das schön. Aber das ist meine ganz persönliche Meinung. Aber das ist für viele in der Branche schwierig umzusetzen. Was machen wir jetzt beispielsweise mit all diesen Schiffen, die inzwischen 6’000 bis 7’000 Passagiere aufnehmen können? Früher gab es Fluggesellschaften, die sich durch den Service unterschieden haben, durchs Essen, Uniformen, Design, den Service. Es gibt heute keine Unterschiede mehr. Heute ist es ein Transport von A nach B. Fliegen ist überhaupt nicht mehr romantisch. Früher habe ich gerne Fluggesellschaften ausgetestet.

Ich habe den Hauptsitz hier in Glattbrugg als eine Art Bienenhaus in Erinnerung. Heute sind viele Büros dunkel. Es ist keine lebendige Atmosphäre. Ich gehe davon aus, dass es bei Ihren Konkurrenten genau gleich ist. Schlägt das aufs Gemüt?

Ja. Klar. Ich war nie im Homeoffice. Ich muss es jeden Tag erleben. In unserem Gebäude mit viel Transparenz, das auf Begegnung ausgerichtet ist, findet diese nicht statt. Hinter den Kulissen sind wir aber teilweise voll ausgelastet. Mit Umbuchungen, mit Annullationen, für die Kunden da sein: das ist unser Job. Nun machen wir in einem Bereich, in dem wir sowieso keine grosse Wertschöpfung mehr haben einen mehrfachen Aufwand – ohne Wertschöpfung. Dass das kommerziell nicht lange gut gehen kann ist ja klar. Das bedrückt mich. Ich bin verantwortlich für das Unternehmen. Es ist nicht meines, aber ich handle so, als ob es meines wäre. Deshalb auch die Massnahmen, die wir treffen mussten, Massnahmen, die leider unumgänglich waren.

Die Folge davon ist klar ersichtlich. Das habt ihr relativ schnell kommuniziert. Es werde Entlassungen geben. Das wurde jetzt auch vollzogen und hat viele Reaktionen ausgelöst. Man hört von mangelnder Empathie, es seien Menschen und keine Maschinen. Wäre das nicht anders gegangen als mit einer Kündigung per E-Mail?

Also so, wie der Artikel in der «SonntagsZeitung» von Frau Karin Kofler verfasst worden ist, kann dieser Eindruck in der Tat entstehen und das ist sehr bedauerlich. Zumal wir ihr im Vorfeld Hintergrundinformationen gegeben haben, die sonst niemanden etwas angehen. Weil sie gut recherchiert hat haben wir das gemacht und umso bedauerlicher ist es, wenn dann ein unausgewogen unfairer Artikel entsteht, bei dem es gar nicht darum gegangen ist, die Herausforderung der Aktion darzustellen, sondern einen reisserisch böswilligen Artikel zu schreiben. Das ist der Stil. Das ist sehr bedauerlich.

Zur Frage per se. Das haben wir rückwärts und vorwärts und lang und intensiv diskutiert. Es ist so, dass wir in der Schweiz leider 170 Stellen abbauen müssen aber noch wesentlich mehr im Ausland. Die Kollegen der Schweiz mussten einen Plan entwickeln und irgendwann muss man ihn kommunizieren. Von Genf bis Romanshorn, von Basel bis Lugano sind überall Mitarbeitende betroffen. Es war uns wichtig, alle Leute gleichzeitig zu informieren und dass sie es nicht aus den Medien erfahren. Die Mitarbeitenden sind grösstenteils zu Hause, sind in Kurzarbeit, sind in erster Linie elektronisch erreichbar. Was hätte es für Varianten gegeben? Sequentiell kontaktieren?

Da fangen die sozialen Medien sofort an zu funktionieren. Es wäre keine zwei Stunden gegangen und wir hätten die ersten Anfragen von Journalisten gehabt. Wir hätten so den Prozess gar nicht durchziehen können. Deshalb war es leider Gottes alternativlos. Es war nie der Stil von Hotelplan, den Mitarbeitenden nicht in die Augen zu schauen. Aber es wäre unsinnig gewesen, die Leute kommen zu lassen und in 15 Minuten zu erklären, dass sie leider den Job verlieren und dann fahren sie wieder nach Hause mit dem Zug. Dann hätte die Schlagzeile geheissen: «Antraben zur Kündigung».

Wir haben intern immer offen kommuniziert und es war allen bewusst, dass es einen Stellenabbau geben wird. Das ist nicht, wie suggeriert wird, aus heiterem Himmel gekommen. Das Mail war nur ein Puzzleteil in einer ganzen Kette. Es wurde mit jedem, der nicht vor Ort war, ein persönliches Telefongespräch an diesem Tag geführt und bis auf zwei hat man alle erreicht. Wir hatten ein externes Care-Team, an das sich die Betroffenen wenden konnten. Mit den Mitarbeitenden am Hauptsitz, die da waren, hat man selbstverständlich direkt gesprochen. Das Personalbüro war voll aufgerüstet, um Unterstützung zu geben.

Es gibt einen Sozialplan, der uns ein paar Millionen kostet, mit speziellem Augenmerk auf die älteren Mitarbeitenden, die über 55 sind. Wir sind uns unserer Verantwortung durchaus bewusst und wir sind ihr nachgekommen. Wenn das dann derart negativ dargestellt wird, dann ist das sehr bedauerlich. Das hat dann eine Nachbearbeitung gebraucht aber unsere Mitarbeitenden wissen, dass es so nicht gewesen ist.

Es gibt auch Vorwürfe, dass man dank Corona jetzt einfacher Leute hat entlassen können. Wegen der Veränderungen in der Reisebranche hätten sowieso Leute entlassen werden müssen. So oder so.

Das ist Blödsinn. Jedes Unternehmen, das in der Reisebranche überleben will, muss fit bleiben. Das heisst permanente Teampflege, Aus- und Weiterbildung, persönlicher Dialog mit den Mitarbeitenden, Korrekturen vornehmen. Was früher «Automatic Pilot» gewesen ist, gilt heute schon lange nicht mehr. Heute ein Unternehmen zu führen, ob gross oder klein, erfordert permanente Anpassung und Korrekturen. Wenn jemand das nicht gemacht hat, dann ist er auch nicht bis 2020 gekommen.

Aber wenn dem Reisen, wie jetzt, die Grundlage entzogen wird und man jetzt nicht reagiert, schiebt man das Problem einfach vor sich hin. Das kann man so machen. Man reizt einfach die Kurzarbeit aus solange es geht. Ob das besser ist? Wir haben uns entschlossen, offen und proaktiv zu agieren und den Entlassenen schnellstmöglich Chancen für ihre Neuorientierung auf dem Arbeitsmarkt zu bieten. Das mag zynisch tönen, ich weiss. Aber deshalb haben wir sie per sofort bei vollem Lohn freigestellt, damit sie möglichst viel Zeit haben, sich neu zu orientieren. Die meisten sind jung, das Durchschnittsalter beim Hotelplan ist 34. Für die älteren ist es sehr viel schwieriger. Für sie gibt es auch eine grössere Unterstützung von uns. Sie können in unserer Pensionskasse bleiben, gegebenenfalls bis zum AHV-Alter. Der Vorwurf der Unmenschlichkeit wird missbraucht. Man muss realistisch sein und sehen, dass wir in eine grosse wirtschaftliche Krise hineinlaufen. Wohl nicht nur im Tourismus.

Wie gross ist der Verlust dieses Jahr?

Da jagt eine Schätzung die andere. Wir waren gut gestartet mit einem extrem guten Winter. Es wäre sehr wahrscheinlich ein Rekordjahr geworden – jetzt gibt es auch ein Rekordjahr aber im negativen Sinn. Wie viel? Ich kann es noch nicht sagen. Innerhalb der gesamten Hotelplan-Gruppe haben wir bis jetzt über 800 Millionen Schweizer Franken Umsatz annullieren müssen. Auch unsere Firmen im Ausland sind davon betroffen. Beispiel UK. Zuerst Brexit und jetzt Corona. Die Schweiz ist ein Sorgenkind wegen der Strukturen.

Dann gibt es andere Firmen, die besser durchkommen wie beispielsweise Vtours in Deutschland, das nur virtuell unterwegs ist, ohne Kataloge oder Marketingvorleistungen, wie wir es in der Schweiz haben. Bei Vtours funktioniert das Modell ganz anders, das ist dynamisch, das ist online, das ist flexibel, das wird sich auch schneller wieder erholen – aber die Voraussetzung ist auch dort, dass man wieder reisen kann. Aber wir haben noch andere Geschäfte, die sich schneller erholen werden wie Interhome oder Interchalet. Wie auch immer, der Verlust wird richtig gross.

Wie festgestellt ist es schwierig, überhaupt Geld zu verdienen. Da ist es vielleicht Zeit für neue Kooperationen. Zeit für Gespräche mit Konkurrenten, die dieselben Probleme haben?

Es gibt keine Gespräche. Jeder ist momentan mit sich selbst beschäftigt, um das Überleben sicherzustellen. So hart muss man das leider formulieren. Aber ich rede mit vielen Leuten, auch mit Schicksalsgenossen. Dabei kann man auch auf neue Ideen stossen. Aber man ist weit entfernt von spruchreifen Projekten. Ich wäre ein schlechter Chef eines Business, das ein People Business ist, das mit Emotionen arbeitet, das aber auch sehr technisch geworden ist, wenn ich nicht offene Augen und Ohren hätte, nicht offen wäre für Kooperationen.

Die Zusammenarbeit mit Google, mit Trivago, mit Weekend.com oder mit Travelzoo wäre ohne diese Haltung nicht zustande gekommen. Wir haben etwas erreicht, das man uns nicht zugetraut hätte. Man unterschätzt uns. Die Transformation vom ehemaligen Badeferienspezialisten zu einem breit aufgestellten Unternehmen hat schon lange stattgefunden. Mit unserer Digitalstrategie haben wir uns dem Zwang, auch mit Verlust zu verkaufen, entziehen können. Das ist das Problem vieler Firmen. Die sitzen jetzt auf den eigenen Assets, seien es Flugzeuge, Schiffe, Hotels. Das hat Hotelplan alles nicht mehr. Wir haben unsere Fluggesellschaft verkauft, wir haben unsere Hotels verkauft, das ist alles weg.

Ausgebaut haben wir beim Business Travel, im Ferienhaus- und Spezialistengeschäft. Mit Vtours sind wir im Massengeschäft zurück – aber auf einer anderen Grundlage. Lean und clean im Warmwassergeschäft ermöglicht den Zugang zum grössten Reisemarkt in Europa: Deutschland. Wir haben also keine Assets mehr und können dem Kunden das verkaufen, was er will und nicht das, was wir verkaufen müssen. Wir sind dann gut aufgestellt – wenn man wieder reisen kann.

Die ganze Branche leidet – leider auch mit Unstimmigkeiten untereinander.

Es gibt offensichtlich Marktteilnehmer, die sich nicht genügend vertreten gefühlt haben vom SRV. Es zeigt auch ein Stück weit die Verzweiflung der Branche. Die letzten Monate haben aber auch gezeigt, dass die Outgoingbranche volkswirtschaftlich weniger wichtig ist als es uns lieb ist. Da ist der Tourismus in der Schweiz viel wichtiger, da hängen viel mehr Jobs, da hängt viel mehr Wertschöpfung dran. Diese ergibt sich in unserem Geschäft vor allem im Ausland. Das macht unsere Position nicht einfach. Das ist eine bittere Pille, die wir leider schlucken müssen.

(Interview: Kurt Schaad)