Gastkommentar: «Es gibt schlichtweg keine Leerflüge»

Der TRAVEL INSIDE Kolumnist und Branchen-Insider Erich Witschi arbeitet für Globetrotter und betreut die Helpline.

Umweltorganisationen und Politiker beobachten besorgt die immer wieder auftauchenden Meldungen über angeblich Tausende von Leerflügen über dem Himmel Europas. In der Boulevardpresse werden sie als Clickbait auch ‘Geisterflüge‘ genannt. Das verleiht dem Ganzen einen Hauch des Mysteriösen. Ich wurde schon gefragt ob bei diesen Geisterflügen keine Piloten im Cockpit sitzen und es sich eventuell um Tests für zukünftige unbemannte/unbefraute Flüge handeln könnte. Die Frage stammt meist von Personen, auf die auch das Thema ’Chemtrails‘ eine gewisse Faszination ausübt. Na ja, lassen wir es!

Die richtige Frage wäre wohl, warum Airlines ein Interesse daran haben könnten, leer von A nach B zu fliegen, anstatt die Flüge zu annullieren. Seit Beginn der Pandemie stehen insbesondere europäische Airlines vor schier unlösbaren Aufgaben. Das Problem Überkapazität lässt sich teilweise lösen, indem man Dutzende oder gar Hunderte von Maschinen irgendwo auf kleineren Airports oder extra dafür vorgesehenen ’Airparks‘ abstellt; meist befinden sich diese in trockenen und warmen Klimazonen, wie zum Beispiel Spanien, Arizona, Kalifornien, VAE, etc., in einigen Fällen aber auch in der Nähe der Heimatflughafen (z.B. Swiss in Dübendorf).

Die Flugzeuge werden ‘eingemottet‘ und bei Bedarf wieder ’reanimiert‘. Das Ganze ist nicht in erster Linie eine Sparübung, sondern eine leidige Notwendigkeit. Die Kosten sind, je nach Variante, sehr hoch. Überführungsflüge, Parkgebühren, Wartung und vor allem vor der Rückkehr in den kommerziellen Einsatz zahlreiche Testflüge, Wartungskontrollen, usw. sind enorm teuer. Eine weitere knifflige Herausforderung ist die nach wie vor geringe Auslastung der noch aktiven Flotte. Zu Beginn der Pandemie sanken die Buchungszahlen bis auf 20% gegenüber 2019. Auch Anfang 2022 sind die Passagierzahlen immer noch zwischen 20 und 50% tiefer als 2019, zumindest in Europa und je nach Airline und Route.

Mit der Stilllegung von Flugzeugen, staatlicher Hilfe und Abbau von Personal kann dies teilweise kompensiert werden. Was aber wenn die verkleinerte Flotte immer noch Überkapazitäten aufweist? Diese Situation wird durch die EU-Verordnung Nr. 95/93 noch zusätzlich verschärft. Diese Verfügung schreibt vor, dass Slots (Zeitfenster) für Starts und Landungen an den grösseren Flughäfen mindestens zu 80% benutzt werden müssen, oder die Airline verpflichtet sich einzelne Slots freizugeben. Zu Beginn der Pandemie wurde dieses Problem zeitweise mit einer Reduktion der Quote auf 25% und später, als sich der Flugverkehr zu erholen begann, auf 50% vorübergehend abgeschwächt.

Die EU plant jedoch auf Beginn des Sommerflugplans ab 28. März 2022 die Quote auf 64% zu erhöhen. Nach Aussagen des CEO‘s eines grossen Luftfahrtkonzerns im Dezember 21, mussten und müssen im Winter 21/22 infolge eines starken Buchungseinbruchs im Januar und Februar, insgesamt 33‘000 Flüge gestrichen werden. Zudem rechne man ab Ende März bis zum Sommer mit 18‘000 ’Geisterflügen‘, nur um die Slots nicht zu verlieren. Die Sorgen der Airlines um die Slots sind zwar teilweise auf bestimmten Strecken berechtigt; diverse LCC‘s, allen voran Wizzair, liegen bereits auf der Lauer. Zum Thema Leerflüge gibt es jedoch keine gut recherchierten und auf Fakten basierende Statistiken. Die Zahl von 18‘000 Leerflügen dürfte also wohl nur der Rhetorik dienen.

Leerflüge gibt es schlichtweg keine, oder nur in ganz seltenen Fällen, wenn z.B. der Rückflug ausgebucht ist. Es handelt sich lediglich um Flüge, die infolge der Pandemie schlecht ausgelastet sind. Vor der Pandemie wurden solche Flüge meist gestrichen und die Pax auf einen anderen Flug oder andere Airline umgebucht. Durch die andauernde Pandemie und den erhöhten Quoten von 50% und 64% kann dieses Vorgehen jedoch nicht in jedem Fall angewendet werden. Das hat zur Folge das auf gewissen Flügen vielleicht nur 10 oder 20 Pax in der Maschine sitzen. Das gab es aber bereits vor Beginn der Pandemie. Ich flog vor einigen Jahren mutterseelenallein in einer 50-plätzigen Dash-8 von Bern nach Berlin.

In den USA wurde die Slot Regelung zu Beginn der Pandemie gänzlich ausgesetzt. In Brüssel wollte man davon nichts wissen. Die Überwachung der Klausel in wird ausserdem in jedem Land etwas anders interpretiert (wie so oft in der EU). Bei internationalen Verbindungen werden in Einzelfällen gar Ausnahmen gestattet, aber deren Beantragung ist ein bürokratischer Spiessrutenlauf und muss von beiden Ländern bewilligt werden.

Fazit: Jede Meldung über angebliche ’Geisterflüge‘ ist ein Sturm im Wasserglas. Horrormeldungen über umweltpolitische Themen sind en vogue und werden im Zeitalter der Flugscham für lobbyistische Zwecke missbraucht. Man kann nur hoffen, dass mit dem Ende der Pandemie wenigstens dieses Thema verschwinden wird und man den Zeigefinger zur Abwechslung wieder auf andere Unzulänglichkeiten des Flugverkehrs richten kann. 

(Erich Witschi)