Gastkommentar: «Eine fiese Attacke auf ein verbrüdertes Nachbarland»

Der TRAVEL INSIDE Autor und Branchen-Insider Erich Witschi arbeitet für Globetrotter und betreut die Helpline.

Politische Kommentare versuche ich in der Regel zu vermeiden. Was aber momentan in der Ukraine passiert, betrifft mich persönlich in einer Art und Weise wie ich es noch nie erlebt habe. Ich kenne das Land sehr gut, war bereits dutzende Male dort und habe auch privat eine enge Beziehung zu Land und Leuten.

Es ist nicht das erste Mal, das ich mit Entsetzen in Richtung Ukraine blicke. Bereits 2014 stand das Land, vor allem die Hauptstadt Kiew, im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit, als die im Jahr 2013 begonnenen Unruhen am 20. Februar 2014 in einer an Brutalität kaum zu überbietenden Gewaltorgie zu Ende gingen.

Ich habe im Dezember 2013 einen Teil der Proteste, die zu dieser Zeit noch weitgehend friedlich waren, hautnah miterlebt. Über die Hintergründe und Entstehung der ‘Maidan Revolution’ oder ‘Revolution of Dignity’ könnte ich noch Seiten füllen. Das würde aber den Ramen eines Kommentars sprengen.

Das Unheil begann bereits kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion, als Russland vom Westen, allen voran der USA, gedemütigt, ausgeraubt (Öl und Gas) und ausgelacht wurde. Die inkompetente Führung im Kreml unter der Führung des besoffenen Tanzbärs Jelzin, hat dabei nur zugeschaut und in die Kamera gelächelt. Als Putin bei seiner ersten Rede vor der UNO Vollversammlung der restlichen Welt die Hand ausstreckte und eine enge Zusammenarbeit vorschlug, wurde er belächelt und nicht ernst genommen. Das hatte zwar mit der Ukraine direkt noch nichts zu tun, dient aber zur Veranschaulichung der heutigen Einstellung und Gefühlslage vieler Russen und des Herrn Vladimir Vladimirowitsch Putins.

Ich habe die Politik Putins in den letzten Jahren immer wieder aus einer anderen Perspektive betrachtet und wurde daher stets als ‘Putinversteher’ belächelt. Das Putin-Verstehen hat aber jetzt ein jähes Ende gefunden, denn was jetzt in der Ukraine geschieht, ist durch nichts, aber auch gar nichts zu rechtfertigen!

Es scheint, als ob Putin innerhalb weniger Tage den Verstand komplett verloren hat und sich nun in eine Situation hineinmanövriert, aus der er kaum mehr heil herauskommen wird. Er hat einen Bruderkrieg entfacht und damit die ganze Welt (mit einigen exotischen Ausnahmen) gegen sich aufgebracht. Seine Aufforderung an das ukrainische Militär und die Bevölkerung, die Waffen niederzulegen und nach Hause zu gehen, zeugt auch davon, dass er überhaupt keine Ahnung über den südlichen Nachbarn hat und das er hochgradig grössenwahnsinnig ist.

Vermutlich hat er bereits realisiert, dass sein Vorgehen in eine Sackgasse führen und ihm seinen Job kosten wird. Das macht ihn brandgefährlich, da er nun nichts mehr zu verlieren hat. Die Drohung mit Atomwaffen zeugt davon, wie weit ihm bereits die Kontrolle entglitten ist. Ausserdem lügt er schamlos. Sein Versprechen, nicht in die Ukraine einzumarschieren hat er umgehend gebrochen. Vermutlich hat er schon immer gelogen, aber bisher konnte ihm nichts nachgewiesen werden. Der Spagat zwischen Despot und Staatsmann ist ihm bisher stets gelungen.

Nun ist ihm völlig egal, ob seine Lügen entlarvt werden oder nicht (erinnert an POTUS 45). Der Westen, insbesondere die USA und die NATO, sollten sich jetzt aber hüten, den Druck, vor allem militärisch, weiter zu erhöhen. Die Sanktionen werden bald ihre Wirkung zeigen und zusammen mit Bildern von toten russischen Soldaten und der Übermittlung von Fakten und Zahlen an das russische Volk über soziale Netzwerke (soweit er diese nicht unterbindet) und Medien werden in der Bevölkerung zunehmend für Unmut sorgen.

Der Sturz von Putin muss von innen, von der russischen Bevölkerung kommen. Auch die Armee spielt dabei eine tragende Rolle. Sobald er die Militärs nicht mehr auf seiner Seite hat, ist er weg. Es gibt nichts was er jetzt noch tun kann, um sein Ansehen auch nur minimal zu verbessern. Anstatt als Präsident ‘who made Russia great again’ wird er nun als Kriegsverbrecher in die Geschichte eingehen, auch wenn er den Krieg heute bedingungslos beendet. Ausserdem würde er wohl in fast allen Ländern zur Persona non grata erklärt und wäre nirgends mehr willkommen, ausser vielleicht bei seinem Kumpel Kadyrow in Tschetschenien.

Auch die gescheiterte Politik des Westens der letzten drei Jahrzehnten hat zur momentanen Situation beigetragen. Die NATO-Osterweiterung, die Demütigung Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion und die immer noch vorherrschende Russlandphobie in den USA haben diese Situation mit verursacht. Aber auch die Ukraine, respektive deren Führung, hat nicht viel dazu beigetragen das Unheil abzuwenden. Wenn Putin von ukrainischen Nationalisten und Nazis redet ist das natürlich übertrieben, aber ganz Unrecht hat er keineswegs.

Seit dem Putsch im Februar 2014 sitzen im ukrainischen Parlament Leute, die nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Es sind die gleichen Kräfte, die im Winter 2013/14 mit finanzieller Unterstützung des Westens in Kiew den Sturz der Regierung herbeigeführt haben. Nationalismus ist in der Ukraine sehr ausgeprägt, das weiss ich aus eigener Erfahrung. Sogar Kindern wird schon früh Nationalstolz eingepaukt: Seit ein paar Jahren muss per Dekret in jeder Schule vor dem morgendlichen Unterrichtsbeginn die Nationalhymne gesungen werden. Dies wird zwar auch in anderen Ländern praktiziert, in der Ukraine hat diese Praxis jedoch einen wesentlich höheren Stellenwert.

2020 wurde ein Gesetz erlassen, dass ab der 5. Klasse der Unterricht nur noch in ukrainischer Sprache stattfinden darf. Das hat die russischsprachige Bevölkerung, also ungefähr 40 – 50% der Einwohner, aber auch weitere Minderheiten mit einer anderen Muttersprache, vor den Kopf gestossen und eine weitere Spaltung des Landes begünstigt. Die Grenze zwischen Patriotismus und Fanatismus wird in der Ukraine leider oftmals überschritten, aber am Ende des Tages sind all diese Erkenntnisse völlig irrelevant.

Was sich momentan in der Ukraine abspielt ist nichts anderes als die durch Machtgelüste eines Geisteskranken ausgelöste, fiese Attacke auf ein verbrüdertes Nachbarland. Russland und die Ukraine haben eine gemeinsame Geschichte, zumindest bis ins 13. Jahrhundert. Kiew ist Geburtsort der Russisch-Orthodoxen Kirche und des Kievan Rus’ sowie die ‘Mutter aller Städte’ – so wird die Stadt am Dnepr in Russland genannt.

Wie bereits erwähnt könnte ich zu diesem Thema, das mir auch aus persönlichen Gründen sehr nahe geht, noch hunderte von Seiten füllen. Wer sich zu Russland und der Ukraine wirklich eine differenzierte Meinung bilden will, empfehle ich das Lesen eines Buches zur Geschichte Russlands, respektive Kievan Rus’ sowie einer Putin Biografie.

Was dieser Krieg vor unserer Haustüre für die Reisebranche für Folgen haben wird, ist noch nicht abzuschätzen. Erste Auswirkungen machen sich bereits bemerkbar. Es bleibt zu hoffen das dieses Verbrechen bald ein Ende findet – möglichst ohne viel mehr Blutvergiessen und mit einer freien, unabhängigen Ukraine – Slava Ukraini!

(Erich Witschi)