Das sagt der Chef von Schweiz Tourismus zum Overtourism

Martin Nydegger wurde von TRAVEL INSIDE auch zu den Themen Nachhaltigkeit, Airbnb und Bleisure befragt. 
Martin Nydegger, CEO Schweiz Tourismus ©TRAVEL INSIDE

Martin Nydegger, Sie sind Direktor der nationalen Tourismusmarketing-Organisation Schweiz Tourismus. Wie ist das erste Halbjahr 2024 für den Schweizer Tourismus verlaufen?

Die Hotellerie verzeichnete in der Schweiz von Januar bis Juli 2024 insgesamt 24,8 Mio. Logiernächte. Dies entspricht einem moderaten Plus von 2% gegenüber der entsprechenden Vorjahresperiode.

Wie steht es um die Nachfrage aus dem Ausland?

Der Fernmarkt läuft hervorragend und die Schweiz ist sehr beliebt bei den internationalen Reisenden. Das absolute Boom-Land ist Amerika.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Die Amerikaner haben wahnsinnige Lust die Welt – und vor allem Europa – zu entdecken. Zudem funktioniert das Land wirtschaftlich gut und die Amerikanischen Touristen haben die Mittel, um Europa zu bereisen. Wir als Schweiz profitieren dabei von unserer Zentralen Lage.

Welches sind die wichtigsten Quellmärkte für den Schweizer Tourismus?

Unsere Hit-Parade sieht wie folgt aus: Die Schweiz ist mit 45% der Logiernächte das wichtigste Herkunftsland der Touristen in der Schweiz. Platz zwei belegt unser Nachbarland Deutschland und gleich dahinter kommen die Vereinigten Staaten.

Dabei ist spannend zu sehen, dass Deutschland, das unser Nachbarland ist und per Landweg erreicht werden kann, nur knapp vor den USA liegt – einem Land, dass durch den grossen Teich von uns getrennt ist und nur mit dem Flugzeug erreicht werden kann.

Im ersten Halbjahr 2024 gingen rund 2,2 Mio. Logiernächte auf das Konto Deutscher Reisende, während rund 1,99 Mio. Logiernächte in der Schweiz von Amerikanern generiert wurden. Da das erste Halbjahr bei den Gästen aus Deutschland wegen der Skiferien oft stärker ausfällt, könnte es sein, dass die USA im Herbst noch aufholen.

Falls Deutschland für den Rest des Jahres 2024 eher stagniert und Amerika weiter zulegt, könnte es das erste Jahr werden, in dem wir mehr Gäste aus Amerika als aus Deutschland haben. Das wäre historisch.

«Bleisure» – die Kombination von Business und Freizeit – ist ein grosser Trend. Ist das ein Thema für ST?

Ja, wir sehen Bleisure Reisen als wichtigen Trend. Expedia hat 2020 eine Studie zu diesem Thema durchgeführt, die spannende Ergebnisse gezeigt hat. Laut der Studie haben 60% der Umfrageteilnehmenden ihre Geschäftsreise privat verlängert. 2023 waren es bereits 89%. Das ist eine signifikante Erhöhung.

Mit gezielten Bleisure-Kampagnen wollen wir als ST die Geschäftsreisenden, die die Schweiz für ihre Arbeit besuchen, motivieren, länger zu bleiben. Unsere aktuelle Bleisure-Kampagne «Fly another day» macht genau das.

Wir sprechen die Geschäftsreisenden dabei genau dann an, wenn sie noch flexibel sind: am Zeitpunkt der Flugbuchung. Ist der Flug einmal gebucht, sind wenige Reisende gewillt, noch einmal Anpassungen vorzunehmen. Erwischt man sie aber vor der Flugbuchung, ist die Hürde zur Verlängerung des Aufenthaltes weniger hoch.

«Fly another day» spricht die Geschäftsreisenden deshalb dann an, wenn sie entscheiden, wie lange sie vor Ort bleiben sollen. Ziel ist es, dass sie länger in der Schweiz bleiben. «Stay Longer» ist hier also das Motto.

Wir machen im Ausland deswegen nur noch Deals mit Tour Operator, die ihre Kunden für mehrere Tage in die Schweiz schicken.

«Deals» bedeutet, dass ST dort finanziell beteiligt ist?

Ja, zum Teil machen wir gemeinsame Werbung. Das ist unser Job.

Wir haben beispielsweise letztes Jahr mit einem grossen chinesischen Tour Operator zusammengearbeitet. Dabei haben wir gemeinsam ein Programm für eine Kleingruppe von 15 Leuten aufgesetzt, die während 15 Tagen die Schweiz besucht haben. Diese Reise wurde in 15 Rotationen durchgeführt.

Was macht ST im Bereich Nachhaltigkeit?

Swisstainable ist unser Nachhaltigkeitsengagement für die Schweizer Tourismus-Branche. Es geht dabei um den umsichtigen, ressourcen- und umweltschonenden Umgang mit unserer Natur. Die Bedürfnisse der Gäste, der lokalen Bevölkerung und der Umwelt sollen damit in ein harmonisches Verhältnis gebracht werden.

Das Swisstainable Programm ist von seiner Konzeption und seiner Inklusion her top.

Wie sieht es mit dem Thema Overtourismus aus? Gibt es in der Schweiz ein Übertourismus-Problem? 

Nein, gibt es nicht. Ich sage das mit aller Vehemenz. Wir haben zugegebenermassen an einzelnen Tagen, an einzelnen Orten Kapazitätsengpässe. Diese müssen wir lösen.

Wir haben rund 200 Tourismusdestinationen in der Schweiz und bei vielleicht 5, 6, 7 gibt es hin und wieder Engpässe. Diese Situationen müssen wir ernst nehmen und die damit verbundene Befindlichkeit der Bevölkerung respektieren.

Ist es also mehr Befindlichkeit oder ist es Realität? 

Die Befindlichkeit wird wahrscheinlich durch die Realität ausgelöst. Niemand will Overtourismus. Niemand will zu viele Leute an einem Ort. Auch wenn wir meiner Meinung nach kein Übertourismus-Problem haben, müssen wir den empfundenen Übertourismus der Bevölkerung ernst nehmen und daran arbeiten.

Wir müssen dabei aber auch zwischen Struktur und Hype unterscheiden. Einige Orte, an denen teilweise Engpässe entstehen, sind systematisch und langfristig vielbesuchte Attraktionen. Hier braucht es durchdachte Lösungsansätze. Andere Orte erfahren einen kurzzeitigen Hype, beispielsweise auf Grund einer Serie oder eines Films. Dies flacht schnell wieder ab und bedarf keiner langfristigen Lösung.

Betrifft Übertourismus auch die Schweizer Städte?

Die Städte absorbieren aufgrund ihrer Grösse mehr Menschen. Viele internationale Städte, die Übertourismus-Probleme haben liegen an Häfen und einer der weltweit grössten Auslöser von Overtourismus sind Kreuzfahrtschiffe. Ich mache mich mit dieser Aussage sehr unbeliebt, aber es ist nun mal ein Faktor.

Ein zweiter Faktor, der Overtourismus begünstigt sind tiefe Preise. Dies gilt sowohl für die Anreise via Billig-Airlines als auch für günstige Preise für Kost und Logis vor Ort. Zudem spielen auch riesige Hotelkomplexe mit hunderten und tausenden von Zimmern eine Rolle. All dies haben wir in der Schweiz zum Glück nicht.

Übertourismus zu verhindern ist aber nicht die Aufgabe von ST, oder?

Doch, ein wenig auch. Wir wollen uns da nicht aus der Verantwortung ziehen. Es ist uns sehr wichtig, mit den Orten, an denen Engpässe entstehen, zusammenzuarbeiten. Wir setzen uns mit den Gemeinden und lokalen Touristikern zusammen und suchen gemeinsam nach Lösungen.

Die Quintessenz dieser Gespräche ist, dass wir einen ganz grossen Teil schon im Vorfeld machen können. Es geht darum, dafür zu sorgen, dass es gar nicht erst zu Engpässen kommt. Unsere Aufgabe ist es, die Besucherflüsse zu lenken und das Ganze zu entflechten.

Mit der Werbung?

Genau. Wir rücken beispielsweise den Frühling und Herbst vermehrt in den Fokus. Zudem zeigen wir auf, dass die Schweiz so viel mehr als die einzelnen Hotspots ist. Ziel dieser breiten Kommunikation ist es, die Besucherströme zu lenken und zu verteilen.

Wie stehen Sie zu Kontingentierung und Eintrittspreisen?

Das Problem ist logistisch-technisch. Ich bin beispielsweise nicht dagegen, dass Besucherflüsse an einzelnen Hotspots mit Drehkreuzen, Kontingenten oder Tickets gelenkt werden. Im Gegenteil. Ich denke jedoch, dass wir versuchen müssen, die Besucher davon zu überzeugen, dass die Schweiz neben diesen vielbesuchten Hotspots noch ganz viele weitere spannende Regionen bietet.

Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht Airbnb beim Overtourismus?

Ich glaube da werden einige Sachen vermischt. Bei der Airbnb-Diskussion geht es, glaube ich, nicht um Overtourismus, sondern um Wohnraumverknappung.

Aber der Vorwurf gegen Airbnb steht im Raum, oder?

Ja, es ist ein viel diskutiertes Thema, aber ich finde diesen Vorwurf unqualifiziert. Das eigentliche Thema ist Wohnraumverknappung und Dichtestress.

Ich glaube, Airbnb ist gut beraten, den Weg, den sie jetzt eingeschlagen haben, weiterzuführen. Sie haben angefangen Abmachungen mit den Städten zu treffen, was die Hygiene- und Sicherheitsvorschriften anbelangt. Sie sind kommerziell tätig, also sollten sie auch kommerzielle Spielregeln befolgen müssen. Wenn sie sich an die Spielregeln halten, sind die ein touristischer Akteur und haben absolut ihre Berechtigung.

Die Airbnb Europa Chefin hat kürzlich in einem Interview gesagt, dass Tourismus nicht nur für Hotels da sei. Unterstützen Sie diese Aussage? 

Das ist eine etwas banale Aussage. Selbstverständlich ist Tourismus nicht nur für Hotels da. Worauf sie vermutlich hinaus wollte, ist, dass Hotels nicht die einzigen legitimen Player in der Logier-Branche sind. Dem stimme ich zu.

Wenn aber kommerzielle Anbieter sehr grosse Volumen von Wohnungen kaufen und diese dann explizit auf Airbnb zur Verfügung stellen, dann entziehen sie der Bevölkerung Wohnraum. Das ist ein Problem.

Ob die Gäste, die in diesen Wohnungen übernachten genug Volumen darstellen, dass sie zum Übertourismus-Problem einer Stadt oder Region beitragen, das bezweifle ich.

Es geht dabei um zwei unterschiedliche Themen. Das eine ist ein Volumenthema und das andere ist ein Wohnraumthema. Ich finde, wir sollten diese zwei Themen nicht miteinander vermischen.

Das Wohnraumthema ist absolut berechtigt und es ist eben auch ein Over-Tourism-Thema – für die Einheimischen.

Sie haben den Dichtestress erwähnt. Was meinen Sie damit?

Wir sind nunmehr 9 Millionen Menschen in der Schweiz und der Dichtestress macht sich bemerkbar. Der Tourismus scheint dabei aktuell unter spezieller Beobachtung zu stehen. Nicht, weil der Tourismus ein Problem ist, sondern weil die Menschen durch den Dichtestress und wegen der Migration unzufrieden sind. Der Tourismus ist dabei nur ein Ventil.

Interview: Chloé Weilenmann