Gastkommentar: «Der Boom ist da, die Piloten weg»

Der TRAVEL INSIDE Autor und Branchen-Insider Erich Witschi arbeitet für Globetrotter und betreut die Helpline.

Am 11. März 2020 erklärte die WHO die bisherige Epidemie offiziell zu einer weltweiten Pandemie. Was dann folgte war (und ist) die grösste Krise für den weltweiten Tourismus seit dem 2. Weltkrieg. Besonders betroffen waren die zivile Luftfahrt (mit Ausnahme der Frachtflüge) und weitere Akteure des zivilen Personenverkehrs.

Im Jahr 2019 beförderten die Airlines weltweit 4,723 Milliarden Passagiere – 2020 waren es noch 1,807 Milliarden. Bei den Prognosen für das Jahr 2022 sind sich die Experten noch einig. Einige schwärmen von Zahlen über dem Rekordjahr 2019, andere mahnen zur Vorsicht, da die geopolitische Lage momentan alles andere als stabil ist. Hinzu kommen Kerosinpreise in noch nie dagewesenen Sphären, die auf absehbare Zeit wohl kaum sinken, sondern eher noch weiter steigen werden.

Die Pandemie ist von der WHO noch nicht als beendet erklärt worden; und dennoch kann man bei gewissen Märkten einen regelrechten Boom feststellen. In Europa sind die kommerziellen Flugbewegungen gegenüber 2021 auf 213% gestiegen und verglichen mit 2020 auf 994%. Momentan liegen sie nur noch ca. 13% unter dem Niveau von 2019. Weltweit fehlen bis zum 2019er Niveau noch ca. 20%.

Die Buchungen für den Sommer und Herbst verheissen Zahlen von weit über denjenigen von 2019. Je nach Wirtschaftslage und ohne weitere negativen Vorkommnisse, könnte das Jahr 2022 also zu einem Rekordjahr werden.

Das Ganze hat jedoch auch Nachteile, wie zum Beispiel der gravierende Personalmangel an allen Fronten! 2020 verloren weltweit ungefähr 62 Millionen Menschen in der Reiseindustrie ihre Stelle und/oder ihr Auskommen. Der Abbau war zum Teil notgedrungen; aber oftmals war kurzfristiges Denken und Panik die Ursache für diesen Kahlschlag. Aber wie heisst es doch so schön: Im Nachhinein ist man immer schlauer.

Viele dieser 62 Millionen Menschen haben in den letzten 2 Jahren in anderen Branchen einen Job gefunden und dabei festgestellt, dass man sich unter Umständen auch anderswo als im Tourismus wohlfühlen kann (abwegiger Gedanke, ich weiss…) und dabei Ende Monat sogar noch mehr auf dem Konto hat. Andere wiederum befinden sich nicht mehr im Arbeitsprozess und wurden (frühzeitig) pensioniert, haben geheiratet, sind Eltern geworden, haben den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt oder hegen schlichtweg Bedenken in eine Branche mit einer unsicheren Zukunft zurückzukehren.

Die Lage ist besonders kritisch bei den Piloten*innen. In den letzten zwei Jahren haben allein in den USA nahezu 10’000 Piloten*innen Angebote angenommen, vorzeitig in den Ruhestand zu treten. Weltweit fehlen derzeit ca. 120‘000 Cockpit Crews. Auf dem Höhepunkt der Krise waren die Airlines froh um jeden Piloten, den sie nicht mehr bezahlen mussten. Doch jetzt fehlen diese Leute. Sogar die Lufthansa musste die Übung mit der frühzeitigen Pensionierung abbrechen, weil sie sonst zu wenige Kapitäne gehabt hätte.

Besonders betroffen sind regionale Airlines in Nordamerika und Europa, die mit kleinerem Fluggerät operieren. Ihre Piloten werden von den grossen Airlines, die wesentlich mehr zahlen und viel bessere Perspektiven bieten, abgeworben. Auch in der Kabine und an den Flughäfen herrscht Personalmangel.

Zehntausende Flight Attendants und Bodenpersonal wurden in den letzten Jahren entlassen oder in den unbezahlten Urlaub geschickt. Diese wieder ins Boot zu holen (sofern sie überhaupt gewillt sind), ist eine Herkulesaufgabe und wird noch Monate dauern. Auch bei der Hardware herrscht immer noch Mangel, da während der Krise Tausende Flugzeuge verschrottet, eingemottet oder für andere Zwecke umgebaut wurden (Fracht).

All diese Umstände werden diesen Frühling, Sommer oder vielleicht gar bis Herbst dem weltweiten Flugverkehr ziemlich viel Ungemach bescheren. Flugstornierungen, Verspätungen, volle Flüge und frustriertes Personal werden wohl bis auf weiteres zur Tagesordnung gehören oder gehören bereits dazu.

Einige Airlines greifen zwecks Schadensbegrenzung bereits zu ‘innovativen’ Methoden. Easyjet zum Beispiel reduziert wegen Personalmangel im A319 die Anzahl Sitze von 156 auf 150 um damit beim Bordpersonal gemäss Vorschrift (pro 50 Pax 1 Flugbegleiter*in) von 4 auf 3 zu reduzieren.

Noch vor ein paar Monaten konnte man im GDS Flüge beinahe ‘Carte Blanche’ buchen. Es gab freie Plätze zuhauf in allen Klassen, die Preise waren moderat und die Bedingungen flexibel. Das hat sich nun deutlich geändert. Die erhebliche Nachfrage, besonders für Nordamerika und Europa, aber auch nach Lateinamerika und schon bald auch nach Ozeanien, gekoppelt mit reduzierten oder nicht erhöhten Kapazitäten wegen Personalmangel und einer kaum vorhersehbaren Reiselust (und Geldreserven wie es scheint) wird überall zu Engpässen führen, mit daraus resultierenden Flugstornierungen, Flugplanänderungen und Verspätungen.

Die Personalsituation bei den hiesigen Reisebüros sowie der völlig ausgetrocknete Arbeitsmarkt sind bei der Bewältigung des Ansturms auch nicht unbedingt hilfreich. Kaum jemand hat diesen Boom vorausgesagt, oder zumindest nicht laut ausgesprochen. Jetzt ist er aber da!

Eigentlich ein Grund zu frohlocken. Das positive Momentum wird jedoch durch alle oben genannten Widrigkeiten, sowie weiteren Faktoren, ausgebremst, und das ist sehr ärgerlich. Leider ist zurzeit keine schnelle Lösung in Sicht. Es bleibt also nur, frei nach Anita Weyermann, ‘Gring ache u seckle’ übrig, sowie die Hoffnung auf eine Erholung bis Ende Jahr, sofern wir bis dann nicht von der nächsten Krise erfasst werden.