Gastkommentar: «US-Flüge werden aufgerüstet, dass sich die Balken biegen»

Der TRAVEL INSIDE Kolumnist und Branchen-Insider Erich Witschi arbeitet für Globetrotter und betreut die Helpline.

Wehe, wenn sie losgelassen! Dieses Zitat umschreibt das momentane Gerangel der Airlines über den grossen Teich wohl am besten. Seit bekannt wurde, dass am 8. November 2021 auch geimpfte Europäer wieder US-Boden betreten dürfen, ist der Kampf um Marktanteile auf den lukrativen Nordatlantik-Strecken voll entbrannt.

Jahrelang galten die Flüge über den nördlichen Atlantik für die Fluggesellschaften als Cash-Cows. Auf dem amerikanischen Markt wurden vor der Corona-Krise für Flüge nach Europa, insbesondere in der Business Class, zum Teil absurde Preise verlangt. In umgekehrter Richtung war das Preisniveau zwar wesentlich tiefer, aber im Schnitt waren diese Flüge mit einer guten Auslastung immer noch sehr rentabel.

In den letzten 18 Monaten, seit Ausbruch der Pandemie und dem Einreiseverbot in den USA und Kanada, ist die Anzahl Flüge über den Nordatlantik dramatisch eingebrochen, zum Teil bis auf nur noch 10 bis 20% gegenüber dem Jahren 2018/19. Einzig der Frachtverkehr nahm zu und hat die Statistik etwas verbessert. Viele Strecken wurden aufgegeben und, um die Slots nicht zu verlieren, ausgedünnt oder zum Teil als Frachtflüge durchgeführt. Es gab nur noch auf den Paradestrecken wie zwischen London, Paris, Frankfurt und New York, Chicago, Los Angeles tägliche Verbindungen mit zum Teil sehr geringer Auslastung.

Dies hat sich nun seit Bekanntgabe der Öffnung November geändert. Man erwartet zwar im Winter 2021/22 noch keine Rekordzahlen, aber für den Sommer 2022 wird aufgerüstet, dass sich die Balken biegen. Der Moment ist ideal, um den Kuchen über den Teich neu zu verteilen. Insbesondere US-Carrier stehen an vorderster Front im Ringen um Slots und Passagiere für den erwarteten Andrang im Sommer/Herbst 2022.

Von den US-Fluggesellschaften ist besonders United fleissig in Sachen neuen Routings und Bestellungen von neuen Flugzeugen. Ein veritables Feuerwerk an neuen Verbindungen wurden kürzlich bekannt gegeben, darunter auch eher ‘exotische’ Destinationen wie zum Beispiel von Newark nach Teneriffa, Ponta Delgada (Azoren), Palma de Mallorca oder Bergen sowie ab Washington nach Amman. Gleichzeitig werden bestehende Routen nach Europa aufgestockt und die während der Pandemie stillgelegten Strecken, wie zum Beispiel Chicago – Zürich und Newark – Nizza wieder aktiviert.

Auch über den Pazifik wird fleissig aufgerüstet, unter anderem mit der neuen Verbindung – Silicon Express – ab San Francisco nach Bangalore, einem der längsten Langstreckenflüge der zivilen Luftfahrt. Aber auch andere US Legacy Carrier setzten ihre Hoffnung auf die Sommersaison 2022. American rüstet dabei vor allem ihren Hub Philadelphia mit diversen neuen Destinationen nach Europa auf. Allgemein wird erwartet, dass in der nächsten Sommersaison die während zwei Jahren aufgestaute Reiselust der Amerikaner und Europäer für eine hohe Nachfrage und volle Flugzeuge sorgen wird.

Aber auch die grossen europäischen Airlines sind nicht inaktiv und planen fleissig für die Sommersaison 2022. British Airways hat bereits zwei A380 aus der Mottenkiste geholt und setzt sie vorderhand als ‘Training’ zwischen London und Frankfurt ein. Ab Dezember sind dann die ersten Langstrecken ab London nach Los Angeles und Dubai vorgesehen und im Sommer 2022, wenn es nach den Vorstellungen von BA geht, wird die A380 bei den Briten eine wahre Renaissance erleben und auch auf anderen Nordatlantikstrecken zum Einsatz kommen.

Auch die Lufthansa wird es sich wohl überlegen müssen, den Super-Airbus wieder zu aktivieren, auch wenn Carsten Spohr dies kategorisch verneint. Die A380 der LH stehen momentan alle in Spanien, sind aber flugtüchtig und könnten bald wieder eingesetzt werden. Bei Swiss und Lufthansa ist man eher vorsichtig mit dem Sommer 2022 und lässt sich noch nicht in die Karten blicken. Eurowings Discover wird in Zukunft wohl auch eine wichtige Rolle spielen.

Was bei allen Airlines auffällt, zumindest was die Flüge in die USA betrifft, ist das wieder entdeckte Leisure-Segment, d.h. die Holzklasse und vor allem die Premium Economy. Besonders mit den neuen Destinationen von United Airlines werden gezielt Leisure-Kunden angesprochen. Diese Strategie sollten sich auch andere Airlines überlegen, denn es wird wohl noch Jahre dauern, bis sich die Business Class wieder füllt und vor allem die Tarife wieder auf dem Niveau von 2019 einpendeln. Ganz sicher lässt sich sagen, dass im Sommer 2022 über den Atlantik enorme (Über-)Kapazitäten vorhanden sein werden; vermutlich über denjenigen von 2018/19.

Kommt noch hinzu das man bis 2025 die Flugsicherung auf den nicht radarüberwachten Streckenabschnitten über dem Ozean mittels Satelliten verbessern und auch den Abstand zwischen den Flugzeugen von bisher 26 Kilometer auf drei Kilometer verringern möchte! Ein Testflug, unter dem Projektnamen ‘FellowFly’, mit zwei Airbus A350 – ohne Passagiere – von Toulouse nach Montréal wurde kürzlich erfolgreich durchgeführt. Die beiden Maschinen flogen leicht versetzt im Windschatten hintereinander in drei Kilometer Abstand über den grossen Teich. Dabei wurden angeblich auch sechs Tonnen CO₂ eingespart. Über den Komfort der zukünftigen Passagiere im hinteren Flugzeug auf solchen Flügen in ‘Gänseformation’ wurde bisher noch nicht nachgedacht… aber das wäre ein anderes Thema.

Eines ist sicher: Die zu erwartenden Überkapazitäten auf dem Nordatlantik werden das Preisniveau abermals in den Keller drücken. Genau das braucht die Branche jetzt nicht. Leider haben Airlines in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass sie nicht lernfähig sind; scheinbar auch nach der schlimmsten Krise seit dem 2. Weltkrieg nicht. Hoffen wir dennoch, dass der Sommer 2022 trotzdem erfolgreich ist – und zwar zu vernünftigen Preisen und ohne die Nebengeräusche eines Preiskampfes über dem Nordatlantik.

(Erich Witschi)