Umstrittener Kriegstourismus in der Ukraine

Im Jahr 2022 reisten rund zwei Millionen Menschen in die Ukraine, wo seit dem Februar des Jahres Krieg herrscht.
Kiev. ©TI/DS

Es ist Krieg – und doch gehen einige hin: Rund zwei Millionen Menschen reisten im Jahr 2022 in die Ukraine, wo seit dem Februar des Jahres Krieg herrscht.

Eine erstaunlich hohe Zahl, die sich kaum nur aus Journalisten und Fotografen zusammensetzt, die als Kriegsberichterstatter ins Land reisten und dem Personal internationaler Hilfsorganisationen. Es müssen wohl auch Touristinnen und Touristen darunter sein. International aber auch in der Ukraine selber ist dieser Tourismus umstritten.

Der Kriegstourismus war schon immer bei einer relativ kleinen Gruppe von Menschen beliebt, die Länder im Krieg als Feriendestination wählten. Reisen in die Ukraine sind ohne Einschränkungen möglich, da die Grenzen des Landes für Ausländer offen sind und Europäer für die Einreise kein Visum benötigen.

Die Anreise ist allerdings beschwerlich. Auf dem einzig möglichen Landweg mit dem Zug oder Bus dauert sie mindestens einen ganzen Tag, um etwa die Hauptstadt Kiew im nördlichen Zentrum des Landes zu erreichen. Die Züge sind oft überfüllt. Einfacher zu erreichen sind Orte im Westen der Ukraine, wo kaum direkte Kriegshandlungen zu spüren sind. Und bei der Ausreise aus der Ukraine kommt es zum Schluss zu langen Wartezeiten, da die EU-Zollkontrollen sehr streng sind.

Ukraine legt eigenes Kriegstourismusprogramm auf Eis

Die Ukraine hat allerdings selber sogar ein Kriegstourismusprogramm angedacht. «Letztes Jahr schlug ‘Visit Ukraine’, eine öffentliche Organisation, Touren zu Städten in der Region Kiew vor, die während des Konflikts mit Russland beschädigt worden waren. Ihr Ziel war es, das weltweite Bewusstsein für die Tragödie in der Ukraine zu schärfen, und sie hatten Reiseführer und Tourismusexperten für das Projekt bereit», erklärte Igor Vinnichenko, der an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew Tourismus studiert gegenüber der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu.

«Die Initiative wurde von Mariana Oleskiv, der Vorsitzenden der Staatlichen Agentur für Tourismusentwicklung der Ukraine, unterstützt und durch Besuche ausländischer Regierungsvertreter und Prominenter in Städten wie Irpin, Bucha und Hostomel angeregt. Der gesamte Erlös der Tour war für die Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge bestimmt», so Vinnichenko weiter. Durchgeführt wurde das Programm dann allerdings nicht, nachdem es als «respektlos gegenüber den Opfern» in die Kritik geraten war.

Nur sichere Touren?

Derweil bieten Reiseveranstalter in Polen weiterhin Reisen in die Ukraine an. Ihre Angebote  sind zweideutig. Sie behaupten, dass sie nur sichere Touren für Touristen anbieten, bei denen die Besucher nur in Gebiete reisen, die weit vom Kriegsgebiet entfernt sind. Zu diesen Gebieten gehören die Hauptstadt sowie die zentralen und westlichen Regionen der Ukraine.

Die Reiseveranstalter sind auch der Meinung, dass ihre Bemühungen zum Sieg der Ukraine in ihrem laufenden Krieg beitragen. Allerdings wirken ihre Sicherheitshinweise für die Kunden oft reichlich abschreckend. So werden zum Beispiel eine Kriegsrisikoversicherung und eine Luftalarm-App empfohlen.

Ausserdem hätten ausländische Touristen, die das Land in diesen schwierigen Zeiten besuchen, eine psychologische Wirkung auf die Einheimischen. Sie reagierten positiv und empfänden dies als eine Geste der Solidarität. Natürlich freuen sich auch die Hotel- und Restaurantbesitzer in der Ukraine über das wachsende Geschäft mit dem Kriegstourismus.

Der Wind bei der staatlichen Agentur hat gedreht

Von offizieller Seite gibt es dennoch wenig Begeisterung, Verständnis oder Unterstützung für diese Art von Kriegstourismus und die in der Ukraine tätigen Reiseveranstalter. Die Leiterin der staatlichen Agentur für Tourismusentwicklung, Mariana Oleskiv, erklärte auf tourism-review.com: «Wir unterstützen diese Art von Tourismus nicht.»

«Kriegstourismus findet im Moment nicht statt, und der Besuch der Frontlinien ist verboten, da 18% der Ukraine besetzt sind», so Oleskiv gegenüber Anadolu. «Der Zugang zu den Frontlinien ist nur für Journalisten, spezielle Delegationen und militärisches Personal erlaubt.»

Sie betonte, dass die Sicherheit von grösster Bedeutung sei. Die staatliche Agentur rät ausländischen Besuchern von Reisen zu Zielen in der Ukraine ab, wenn dort Krieg herrscht. Alle Länder Europas, auch die Schweiz, raten generell von Reisen in die Ukraine ab.

Hoffnung auf die touristische Zukunft

Für die Zukunft nach dem Krieg hat die ukrainische Tourismusindustrie jedoch grosse Hoffnungen. Schliesslich reisten vor der Pandemie pro Jahr etwa 14 Millionen Touristinnen und Touristen in die Ukraine. Damals vor allem Kulturinteressierte in die Städte sowie Sportfans in die Karpathen.

Wenn die Freizeitreisenden zurückkehren, wird es sicherlich zunächst einen beträchtlichen Anteil an Memorialtourismus geben, mit dem Besuch von Orten, an denen sich Tragödien wie Krieg, Völkermord oder andere tragische Ereignisse abgespielt haben. Solche Reisenden sind in vielen ehemaligen Kriegsgebieten zu sehen, wie etwa in Kambodscha oder Vietnam.

Ein grosser Player im internationalen Tourismus hat jedenfalls bereits einen Fuss in der Türe zur Ukraine: Airbnb und die Staatliche Agentur für Tourismusentwicklung der Ukraine haben erst Ende September ein gemeinsames Memorandum über die Nachkriegszeit unterzeichnet.

Christian Maurer