Boom-Industrie kämpft um ihre Zukunft

Erste Kreuzfahrtschiffe wagen in Europa den Restart. Doch die Perspektiven sind für die erfolgsverwöhnte Cruise-Industrie alles andere als rosig.
Beat Eichenberger, Chefredaktor «cruisetip»

Nun geht es also sachte wieder mit grösseren Kreuzfahrtschiffen los: Nach dem limitierten Restart von Hurtigruten und Seadream in Norwegen, von Ponant entlang den französischen Küsten und in der Arktis sowie kleinen Yacht- und Segel-Spezialisten in einzelnen Revieren wie der kroatischen Adria wagen sich Ende Juli/Anfang August auch die deutschen Reedereien Aida, TUI Cruises und Hapag-Lloyd Cruises wieder aufs Wasser.

Die neu konzipierten Seereisen in der Nord- und Ostsee werden mit reduzierter Auslastung und umfangreichen Schutzkonzepten durchgeführt, sind zudem meist kürzere «Cruises to Nowhere» ohne Landgänge. Der Brüller ist das noch kaum, aber wer sich einige Tage Meeresluft um die Nase wehen lassen und den Komfort eines schwimmenden Hotels ohne Gedränge geniessen möchte, kommt ohne Zweifel auf seine Rechnung.

Man kann davon ausgehen, dass ähnliche, regional beschränkte Möglichkeiten bald auch im Mittelmeer entwickelt werden. Costa setzt den Betrieb zwar noch bis 15. August aus (und hat sämtliche Nordeuropa-Fahrten für den Rest der Sommersaison annulliert), von MSC gibt es aktuell keine News zum Neustart. Die griechische Celestyal ihrerseits hat gar die ganze Saison 2020 abgesagt, was kein gutes Zeichen ist. Auch Nordamerika fällt bis mindestens 1. Oktober ausser Traktandum – die Gesundheitsbehörde CDC hat den «Cruise-Ban» ab US-Häfen verlängert. Mehr und mehr Destinationen untersagen zudem vorläufig das Anlaufen von grösseren Kreuzfahrtschiffen, in Kanada gilt dieses Verbot generell bis Ende Oktober.

Ein wirtschaftliches Desaster

Der mehrmonatige komplette Stillstand und die ungewissen Perspektiven versetzen eine ganze Industrie, die jahrzehntelang nur Wachstum und stolze Margen kannte, in eine äusserst prekäre Lage. Grosse Konglomerate wie Carnival Corporation, Royal Caribbean Group oder Norwegian Holdings konnten sich zwar zusätzliches Kapital beschaffen und versichern in gelegentlichen Lebenszeichen, man könne noch Monate durchstehen. Doch die Insolvenz von Pullmantur, ein Joint Venture von Royal Caribbean, lässt nichts Gutes erahnen – wie werden kleinere, unabhängige Anbieter das Desaster überstehen?

Erste Reorganisationen und Konsolidierungen, überraschende Chefwechsel und Entlassungen an Land überraschen inzwischen nicht mehr. Dramatisch und verknüpft mit tragischen menschlichen Schicksalen entwickelte sich die schwierige Heimführung der Schiffs-Crews: Wegen geschlossenen Grenzen und ausgesetzten Flugverbindungen sassen über 150’000 Arbeitskräfte zum Teil monatelang und nur minimal entlohnt (wenn überhaupt) auf inaktiven Schiffen fest. Noch heute wartet vereinzelt die Staff auf eine sichere Heimkehr. Zudem: Auch wenn die Schiffe nur noch minimal bemannt auf Reede liegen, kostet das die Reedereien viel Geld.

Die kritische Situation zieht aber noch weitere Kreise: Über 110 neue Cruiseliner stehen über die nächsten Jahre in den Auftragsbüchern der Werften oder sind im Bau. Nur: Zusätzliche Kapazitäten braucht in absehbarer Zeit kein einziger Anbieter – im Gegenteil: Bereits werden die ersten Flotten verkleinert. So will sich das mit über 100 Schiffen weltgrösste Cruise-Konglomerat Carnival Corporation von 13 Einheiten trennen – die Costa Victoria wird zum Beispiel verschrottet. Dieses Schicksal dürfte noch weiteren Schiffen blühen, denn der Secondhand-Markt, der Weiterverkauf von 20- bis 30-jährigen Cruiselinern an kleinere Anbieter, ist ebenfalls eingebrochen. Spekuliert wird etwa auch, ob die drei Oldies der unter Gläubigerschutz gestellten Pullmantur überhaupt je wieder in See stechen werden.

Bestellte Neubauter hinauszögern

Auf der anderen Seite verhandeln die Reedereien intensiv mit den Bauwerften um die Auslieferung bestellter Neubauten und entsprechende Zwischenzahlungen hinauszuzögern. Dies wiederum bringt die Werften in Schwierigkeiten. Mit staatlicher Unterstützung wie der Stundung von gewährten Krediten soll nun in Deutschland vermieden werden, dass die Reedereien aus Bau-Verträgen aussteigen und so noch mehr Arbeitsplätze der Werften gefährden. Das «Strecken» der Aufträge ist aber auch für die Werften überlebenswichtig, denn in den nächsten Jahren ist kaum mit neuen Bestellungen zu rechnen. Rund 25 Neubauten hätten in diesem Jahr ihren Dienst aufnehmen sollen. Bis jetzt wurden deren sieben ausgeliefert, die aber bisher noch kaum je Gäste gesehen haben. Immer mehr Übergaben werden nun laufend auf 2021 verschoben.

Wie soll es weiter gehen?

Es werde Jahre dauern, bis sich die Cruise-Industrie vom Corona-Schock erholt habe, äussern sich immer mehr prominente Stimmen. Dabei geht man davon aus, dass sich vorerst vor allem kleinere Schiffe wieder im Markt etablieren können, die entweder geografisch limitierte, aber auch entlegene Regionen besuchen. Kleinere Einheiten sind aber meist im First Class- und Luxus-Segment angesiedelt und oft Expeditionsschiffe – also nicht für jedes Budget geeignet.

Schwieriger dürfte das Comeback für die im Massenmarkt angesiedelten grösseren Kreuzfahrschiffe ab 2000 Passagiere bis zu den Mega- und Gigalinern für über 6000 Passagiere werden. Die Implementierung von verlässlichen Schutzkonzepten ist bei solchen (wenn auch reduzierten) Passagierzahlen eine gewaltige Herausforderung, zudem werden sich zum Schutze der eigenen Bevölkerung vorläufig noch längst nicht alle Häfen grossen Schiffen öffnen. Diese dürften deshalb (wie jetzt deutsche Reedereien zeigen) vorerst nur auf Fahrten ohne oder mit nur einzelnen Landgängen zum Einsatz kommen. In der Karibik sind Reisen zu den Privatinseln der Reedereien denkbar, aber auch die vermehrte Verschiebung grosser Pötte nach China.

Die Angst vor der Quarantäne

Entscheidend ist aber etwas anderes: Das «Massen»-Image und die Befürchtungen potenzieller Kunden, bei einem möglichen Corona-Ausbruch an Bord in Quarantäne gefangen zu sein, werden vorläufig die Nachfrage beeinträchtigen. Die Akzeptanz absolut verlässlicher Schutzmassnahmen durch die Passagiere ist deshalb derzeit banalste Voraussetzung für ein Comeback der Seereisen. Dazu gehört auch – wie man seit der Diamond Princess weiss – das kritische Thema Frischluftumwälzung und Klimaanlage. Eine reduzierte Auslastung der Schiffe mag die Gäste erfreuen, ist aber letztlich für die Reedereien wirtschaftlich desaströs.

Aber auch die längst vor Corona in der Öffentlichkeit diskutierten Schattenseiten des Cruise-Booms der letzten Jahre sind nicht einfach verschwunden. Stichworte wie gewaltige Mehrkapazitäten, Gigantismus und Overtourism, vor allem aber Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit haben das Bild der Kreuzfahrten in weiten Kreisen negativ geprägt. Natürlich: Längst nicht alle Vorwürfe sind gerechtfertigt und fast überall dämmert es in den Chefetagen, dass sich etwas ändern muss. Trotzdem ist die Industrie gefordert, sich künftig massiv stärker ihren problematischen Seiten zu stellen als bisher. Dabei gehören zu einem glaubhaften Imagewandel nicht nur Taten, sondern auch eine offene und ehrliche Kommunikation.

Hoffnungen auf die Karibik-Wintersaison

Wie kann es also konkret weiter gehen? Die Reedereien wollen und müssen natürlich so rasch wie möglich wieder Einnahmen generieren. Insbesondere die stark auf den amerikanischen Markt ausgerichteten Anbieter setzen nun all ihre Hoffnungen auf ein nachhaltiges Comeback in der wichtigen Karibik-Wintersaison, andere visieren spätestens den Sommer 2021 an.

Als wäre nichts geschehen, werden umfangreiche weltweite Programme publiziert, doch auch hier gilt wie überall in der Reisewelt: Das Virus wird wohl noch für Monate den Takt angeben und über die definitive Machbarkeit bestimmen. Mit flexiblen Buchungs- und Storno-Bedingungen versuchen die Reedereien die Bedenken der Kunden zu zerstreuen und zu retten, was noch zu retten ist. Was zuvor nie denkbar war ist plötzlich Tatsache geworden: Eine erfolgsverwöhnte Boom-Industrie muss um ihre Zukunft kämpfen.

(Beat Eichenberger)