Gastkommentar: «Zeitpunkt für Neugründung ist gar nicht so schlecht»

Der TRAVEL INSIDE Kolumnist und Branchen-Insider Erich Witschi arbeitet für Globetrotter und betreut die Helpline.

Fast 100 neue Fluggesellschaften wollen noch dieses Jahr an den Start. Diese Mitteilung war für kurze Zeit in den ‘unter-ferner-liefen’ Seiten zu lesen.

Einige werden sich gefragt haben, warum ausgerechnet in den schlimmsten Krisenjahren der Zivilluftfahrt seit dem Zweiten Weltkrieg, während Dutzende von Airlines Konkurs anmelden mussten (40 alleine in diesem Jahr) oder kurz davor stehen und alle anderen massiv Stellen abbauen und ihre Flotten verkleinern müssen, viele Neugründungen den Markt fluten wollen.

Für ein besseres Verständnis müsste man die einzelnen Newcomers genauer unter die Lupe nehmen, was aber in den meisten Fällen eher schwierig ist, da sich die Start-Ups nur ungern in die Karten blicken lassen, insbesondere was die Geldgeber und das Startkapital betrifft.

Wenn man aber genau hinschaut, stellt man fest, dass es sich bei den allermeisten ‘Greenhorns’ um regionale Nischencarrier handelt, die teilweise den Markt abdecken der von den etablierten Airlines in den Krisenjahren 2020/21 aufgegeben oder die Frequenzen drastisch reduziert wurden.

Die meisten der neuen Mitstreiter sind in Europa zu finden, wo die Krise in der Luftfahrt besonders hart gewütet hat. Bei diversen geplanten Strecken handelt es sich zudem um Routen die auch unter dem Begriff ‘Essential Air Service’ bekannt sind. Diese Strecken werden von den Regierungen der jeweiligen Länder finanziell unterstützt um sicherzustellen, dass auch abgelegene Orte, die zum Teil nur auf dem beschwerlichen Land- oder Seeweg erreicht werden können, mit einer effizienten Verkehrsanbindung für Menschen und Güter versorgt werden.

Andere Einsteiger bieten Strecken an, die touristisch oder ethnisch interessant sind und sonst nur mit langen Umwegen über stark frequentierte Hubs oder gar nicht zu erreichen sind. Viele Reisende sind bereit einen Premium-Preis zu bezahlen, wenn sie die gewünschte Destination nonstop in einer Stunde erreichen, anstelle von vier Stunden oder mehr und mit Umsteigen.

Ein paar Beispiele für Airlines die in den Startlöchern stehen oder bereits flügge sind: Southeast Airlines (Slowenien) als Ersatz für Adria Airways, Litorali Airlines (Italien) mit Flügen zwischen Süditalien und Albanien (ethnischer Verkehr) und Ego Airways (Italien) mit Inlandflügen ab Milano sowie Feriendestinationen in Griechenland, etc. (profitiert von der schwächelnden Alitalia und dem temporären Rückzug der Lowcost Airlines).

Der Zeitpunkt für eine Neugründung ist momentan gar nicht so schlecht, denn in Fachkreisen wird erwartet, dass es in den nächsten Monaten und Jahren weltweit in der Luftfahrtbranche eine Art ‘Flurbereinigung’ oder Konsolidierung geben wird. Erst nächstes Jahr wird mit der grossen Pleitewelle gerechnet, deren Ausmass gänzlich davon abhängt wie schnell sich der weltweite Tourismus und Geschäftsreiseverkehr erholt und wo sich die Preise einpendeln. Vier weitere Gründe die für die Neugründung einer Fluggesellschaft sprechen:

  • Es stehen tausende gebrauchte und neue Flugzeuge herum, sowohl von grossen Airlines aber auch bei den Flugzeugherstellern. Die Preise sind im Keller und der Schnäppchenmarkt blüht. Sobald der Boom wieder los geht und die Nachfrage steigt, werden die Preise, je nach Marktsituation, wieder steigen.
  • Tausende entlassene und gut ausgebildete Menschen, Kabinen und Bodenpersonal, warten auf eine neue Beschäftigung und stehen zur Verfügung, meist auch wenn sie in ein anderes Land umsiedeln müssen.
  • Viele Strecken liegen brach, werden nur spärlich bedient oder sind sauteuer (Monopol).
  • Der Tourismus wird sich verändern, die Frage ist nur wie. Die Menschen werden viel bewusster Reisen und Massendestinationen meiden. Dies öffnet neue Möglichkeiten für bis anhin unbekannte Destinationen, was wiederum neu gegründeten Airlines eine Chance bietet diese Märkte zu erobern. Nachhaltiges (das Wort des Jahrhunderts) Reisen wird an Popularität gewinnen.

Es lauern aber auch Gefahren. Die Klimadebatte und die drohende Kerosinbesteuerung könnten dazu beitragen die Lust am Fliegen in den nächsten Jahren zu dämpfen (was ich jedoch bezweifle). Eine Finanz- oder Wirtschaftskrise könnte in der nahen Zukunft für einen weiteren massiven Rückgang des Flugverkehrs sorgen.

Es braucht also Mut, finanzielle Mittel und Weitsicht, in diesen Zeiten, trotz scheinbar idealen Voraussetzungen, eine neue Airline an den Start zuschicken. Ich wage folgende Einschätzung: 10 bis 20% der Start-Ups werden gar nie abheben. Weitere 30 bis 40% werden in wenigen Monaten wieder aufgeben. Der Rest wird sich 2 bis 3 Jahre behaupten können und dann werden abermals ca. die Hälfte davon das Handtuch werfen.

In der zivilen Luftfahrt wird es jedenfalls in den nächsten 2 bis 3 Jahren sehr spannend. Das Glas ist momentan halb leer aber auch gleichzeitig halb voll. Die Frage ist nur wie viel noch in der Flasche ist. Erste Anzeichen in welche Richtung es für uns alle, und vor allem für die Neulinge gehen wird, sollte bis Ende Jahr mehr oder weniger feststehen oder zumindest erahnt werden.

(Erich Witschi)