Jürg Acklin: «Reisen gehört zum Menschen, der Mensch braucht das»

Der Reisejournalist und TRAVEL INSIDE Autor Kurt Schaad hat sich mit dem bekannten Psychoanalytiker und Schriftsteller Jürg Acklin unterhalten.
Jürg Acklin © zVg

Wenn wir nicht mehr oder nur eingeschränkt reisen können, bleibt wenigstens Zeit, über die Hintergründe des Reisens und des Reiseverhaltens zu reden. Ein Hintergrund-Gespräch mit dem Schweizer Schriftsteller und Psychoanalytiker.


Jürg Acklin, das wohl zurzeit berühmtestes Virus heisst Covid 19. Und dann gibt es auch noch ein Virus, das möglicherweise schon seit Jahrtausenden existiert: das Reisevirus. Auch ich bin davon befallen. Um was handelt es sich da genau?

Um eine einfache und clichierte Antwort zu geben: ursprünglich waren die Menschen Nomaden. Da liegt schon der Kern begraben. Sie sind von Ort zu Ort gezogen, haben so gelebt. Auch die Handwerksburschen mussten verreisen, der Handel natürlich auch. Man musste neue Orte «erobern», auch durch Kriege.

Früher ist man nicht gereist, sondern hat, unter anderem, Kriege geführt. Reisläufer waren eigentlich auch Touristen, nur sind sie mit der Hellebarde gereist. Dort, wo der Mensch ist – das reicht dem Menschen nicht. Er will etwas sehen. Im positiven Sinn ist er neugierig. Er will wissen, was hinter dem Tal ist. Wenn nicht gereist wird, bleibst du auf dem sitzen, was du immer gehabt hast. In dem Moment, wo du auf Reisen gehst, hast du neue Eindrücke, neue Leute, neue Landschaften, wirst du umgeformt.

Was heisst umgeformt?

Du erweiterst dich. Mit dem, was du dir angeeignet hast, das für dein Zuhause gepasst hat, mit dem kommst du nicht weiter. Du musst neue Mechanismen entwickeln, wenn du in einer ganz anderen Stadt, einem ganz anderen Land bist. Da musst du dazu lernen, erlebst vielleicht einen Kulturschock. Wo etwas fremd ist, kommst Du vielleicht in Nöte und musst dich ganz neu orientieren. Das erweitert deine Person sehr.

Das ist aber auch mit negativen Gefühlen verbunden.

Für denjenigen, der reist, der das gern macht zwar schon auch, aber der nimmt das in Kauf. Solche Ohnmachtssituationen bringen dich auch weiter. Du musst etwas machen – oder du gehst wieder nach Hause oder in die Psychi, falls es dort überhaupt eine gibt. Viele reisen nicht gern, weil sie ihr Gebiet verlassen müssen. Aus der Angst, dass sie mit der Situation nicht fertig werden.

Nun gibt es den Unterschied zwischen Reisen und Ferien machen.

Ferien machen ist eigentlich mit den Engländern Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommen. Die Oberschicht konnte sich Ferien in der Schweiz leisten. Eigentlich die Geburtsstunde der Schweizer Hotellerie. Ein kleines Mass Abenteuer war schon noch dabei, die Reise von London nach Zermatt beispielsweise. Diese Art von Tourismus war dann auch mit Prestige verbunden und war der Auslöser für Ferienreisen. Wenn man in den 50er Jahren mit der Familie eng zusammengequetscht im Auto nach Italien reiste, war das schon auch noch ein bisschen ein Abenteuer. Eine andere Sprache, eine andere Kultur, eine andere Musik etc. Es war ein Stück weit nicht so wohlfeil, wie es geworden ist.

Heute besteht das Abenteuer darin, dass man nicht sicher ist, ob der Koffer ankommt.

Ja, und die Hotels sind heute überall gleich, sind klimatisiert, alles sehr bequem. Aber Abenteuerlust ist grundsätzlich etwas Gutes. Es ist eine genuine Seite des Menschen. Aber es kann auch ein Stück weit eine Flucht sein und kann bis in eine Sucht kippen. Dass du beispielsweise schnell übers Wochenende nach Mailand shoppen gehen musst oder gleich nach New York. Diese sogenannt Reisenden sind dann gar nicht dort, wo sie sind. Sie sind nicht in Mailand oder New York. Sie sind wie flüchtige Gase.

Und das geschäftliche Reisen?

Dort findet das Reisen zurzeit nicht oder nur wenig statt. Die Geschäftswelt funktioniert aber erstaunlicherweise trotzdem noch relativ gut. Ein grosser Teil dieser Reisen – heute in Hongkong und morgen in Dubai – war mit Prestige verbunden, das ist jetzt heruntergedämpft. Man muss neue Kommunikationsformen finden. Es ist nicht unbedingt abenteuerlich, wenn du erste Klasse fliegst und das Hotelzimmer in Dubai gleich ausschaut wie dasjenige in Hongkong. Aber es ist ein wichtiger Prestigemoment.

Reisen als Sucht?

Es kann alles zur Sucht werden. Es ist eine Frage des Masses. Dass wir uns ständig ablenken müssen: da kann das Reisen eine grosse Rolle spielen. Zuerst gehst du in die Nähe, dann gehst du immer weiter und letztlich ist die Grenze die Erdkugel. Und vielleicht können wir auch bald einmal zum Mars. Das gehört zum Menschen. Der Mensch braucht das. Vielleicht ist es auch mal notwendig, um zu überleben.

Reisen ist ja nicht nur angenehm. Lange Anreisen, Jetlag, Security, Enge Flugzeuge etc. Und trotzdem nimmt man es immer wieder auf sich. Anstelle dieser Mühsal nun ein Ausflug zum Vierwaldstättersee? Ist ja auch schön.

Der Psychoanalytiker Jürg Acklin tritt oft auch am Fernsehen auf. Hier im «Club» von SRF. @ Screenshot SRF.ch

Du bist ein neugieriger und offener Mensch, der Freude hat, etwas Neues zu erfahren. Das ist einer der Hauptmotoren. Das bringt einen weiter. Du hast innerlich eine andere Bilderwelt als einer, der weniger gereist ist. Und zwar eine Bilderwelt, wo du etwas erlebt hast mit Tiefenschärfe. Keine Bilderwelt aus dem Fernsehen. Du hast den Geschmack gehabt, die Geräusche etc. Früher sagte ich immer, warum muss ich dorthin reisen? Ich bin ein Mensch mit viel Fantasie. Das stimmt. Ich kann mir New York sehr gut vorstellen. Aber es ist etwas anderes, wenn du dort bist und an einem Kandelaber den Kopf anstösst. Das ist ein anderes Leben. Du willst sehen, wie ist es wirklich und das denke ich, ist etwas Wichtiges.

Also doch nicht nur an den Vierwaldstättersee?

Notgedrungen haben wir jetzt halt kleine Ausflüge gemacht. Ich zum Beispiel an den Klöntalersee. Unglaublich. Du kannst auch dort viel entdecken. Jetzt ist der Rahmen nicht mehr die Welt, jetzt ist der Rahmen die Schweiz. Ohne jetzt kitschig zu werden: auf dem Atzmännig den Sonnenuntergang mit Blick auf den See zu erleben: Entschuldigung aber «da verrecksch fascht». Das ist auch ein kleines Abenteuer. Naturwissenschaftler sind übrigens auch Abenteurer, sonst gäbe es die Welt nicht, so wie sie ist.

Diese Welt ist zurzeit geprägt vom Klimawandel. Das hindert mich zwar noch nicht, in ein Flugzeug zu steigen aber im Hinterkopf fliegt immer auch das schlechte Gewissen mit. Ein innerer Konflikt, der sich in Zukunft noch mehr akzentuieren wird.

Ja, das schlechte Gewissen. Soll ich jetzt nicht mehr an den Klöntalersee fahren? Aber hallo. Bevor ich den Corona Blues bekäme, würde ich besser vorher noch mit dem Auto dorthin fahren. Diese Balance ist auch wichtig. Wenn du ein genuin Reisender bist, dann sollte man dir das nicht nehmen. Das sinnlose Fliegen, das Suchtfliegen, das Prestigefliegen ist etwas anderes. Aber vielleicht entwickeln wir Flugzeuge, die keine schädlichen Abgase mehr ausstossen. Wenn wir uns dem Reisen verschliessen, dann leben wir am Schluss in einem Tal, in dem wir nicht mehr über den Berg hinaussehen.

Reisen hat auch irgendwie etwas befreiendes. Ist nicht mehr reisen zu können ein Ausdruck davon, wie problematisch es ist, eingeschränkt zu sein in seinem Bewegungskreis?

In dem Moment, wo man die Utopien nicht mehr aufrecht halten kann – wir leben alle von grossen und kleinen, persönlichen Utopien – in dem Moment, wo eine geplante Reise nicht stattfinden kann, wenn du das nicht mehr hast, ist es wie Mehltau. Du hast ja diese positiven Reise-Erinnerungen. Die Landschaften, die Leute, das Essen, die Stimmung. Wir haben es schön gehabt und möchten das wieder erleben. Ich sehe, wie die Leute ein Glücksempfinden haben, wenn sie an einem Strand sitzen können. Ich sage immer: baut etwas von diesem Empfinden in euren Alltag ein. Allerdings sollte man auch schauen, nicht ins Hamsterrad zu geraten, um dann nur in den Ferien daraus heraus zu kommen.

Man kann sich dem Virus ja auch verweigern, indem man sagt, es ist gar nicht da. Man verweigert das Maskentragen. Ein individuelles Freiheitsbedürfnis, das nicht kompatibel ist in einer Gesellschaft, in der man mit andern zusammenlebt.

Es erinnert mich an die Einführung des Sicherheitsgurtes, als man tat, als wäre der Staat ein Diktator. Gewisse Leute ertragen das nicht. Bei 9/11 konntest du erleben, was die Leute für Abwehrmechanismen zur Verfügung haben. Du hast die Panischen gesehen: jetzt gehen überall Bomben los. Die Verleugner argumentierten, dass es bei Autounfällen mehr Tote gebe oder dann gab es diejenigen, die meinten, es sei gut, aufgerüttelt zu werden. Bei denjenigen, die verleugnen, sind riesige Ängste vorhanden.

In dem Moment, wo du sagst, es ist nichts, ist das für dich die Realität. Oder Bill Gates sei schuld. In dem Moment, wo einer schuld ist, meint man, man müsste diesem nur das Handwerk legen, dann ist es nicht mehr da. Dann ist die Angst weg. Diejenigen, die nicht in Panik geraten wollen, sind die Verleugner. Verleugnen ist ein ganz starker Abwehrmechanismus. Wenn du zu zerfallen drohst, dann musst du den Realitätszapfen ziehen und sagen: mir kann nichts passieren. Du kannst mit gewissen Leuten nicht reden. Die lassen die Realität nicht zu, weil sonst die Angst kommt.

Nun gibt es aber auch die realen Ängste der Reisebranche, wo durch das faktische Berufsverbot Existenzen auf dem Spiel stehen.

Die realen Ängste haben im Gegensatz zu neurotischen Ängsten, die uns unnötig bremsen, eine wichtige Funktion. Sie bewahren uns davor, etwas Gefährliches zu tun. Wir sind aufgefordert, mit einem kühlen Kopf die Lage zu analysieren und adäquate Lösungen zu finden.

Wenn ich nicht mehr reisen kann: was heisst das? Ich will ja reisen. Bleibt noch der Vierwaldstättersee.

Wenn du ein vernünftiger Mensch bist, dann leidest du darunter, regst dich furchtbar auf. Du überlegst dir ganz sachlich, wo kann ich überhaupt noch hin, machst eine Abwägung des Risikos und entscheidest dich. Und du darfst dich aufregen über mangelnde Organisation, das BAG oder den Bundesrat. Es geht gar nicht darum, ein angepasster braver Bürger zu sein. Aber gleichzeitig muss man auch wissen, dass weder der Bundesrat noch das BAG das Virus erfunden haben. In Deutschland wurde gesagt, die Verordnungen seien wie das Ermächtigungsgesetz von Hitler. Ist ja absurd.

Man hat sich halt an etwas gewöhnt. Als meine Eltern zum ersten Mal eine Auslandreise machten, war ich schon zwei Mal um die Welt gereist. Reisen als Selbstverständlichkeit. Absolut privilegiert. Gewohnheiten, die für viele andere Leute auch gelten. Man hat sich daran gewöhnt, die Welt zu erobern.

Wir müssen Lösungen finden, dass wir das wieder können. Es wäre noch schöner, wenn wir uns entschuldigen müssten, dass wir Freude am Reisen haben. Wir müssen uns überlegen, wie wir das machen, dass wir das wieder können. Es ist auch eine Frage der technologischen Veränderung. Es sind ja nicht nur Ideologien, die die Welt verändern. Zum Glück haben wir die Naturwissenschaften entwickelt.

Dass heisst, wir sollten uns auch Gedanken machen, die Selbstverständlichkeit des Wohlstands aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten?

Es kann auch eine Übersättigung geben. Wenn du jeden Tag Filet isst, dann musst du mit der Zeit einen noch grösseren Essens-Reiz entwickeln und dann wird es absurd. Dafür kann das Virus heilsam sein und man kann sich fragen, was ist eigentlich wirklich wichtig für uns und was wollen wir eigentlich. Es ist ja angenehm, dass wir die Wahl haben zwischen 500 verschiedenen Joghurts, aber es braucht nicht zwingend so viele.

Also dank dem Virus sich Gedanken machen, was der Sinn und Zweck einer Reise oder der Sinn und Zweck unseres Daseins ist?

Die Krise als Chance mag ich nicht, weil es immer auch im falschen Moment gesagt wird. Auch wenn es stimmt, es nützt dem nichts, der mittendrin sitzt. Aber es ist trotzdem so. Und es gibt auch diese fürchterliche Äusserung, dass es einen Krieg geben müsste, damit die Leute wieder sehen, was sie haben. Und diejenigen, die an der Pandemie schwer erkrankt oder gestorben sind, können auch nicht sagen, es sei eine Chance. Aber sie bietet insofern eine Chance, dass wir auf existenziellste Probleme zurückgeworfen und Erdenbürger sind, die alle gleich verletzlich sind. Wir haben zum Glück keinen Krieg gebraucht.

Corona rüttelt auf. Der Mensch wird weder besser noch anders, aber es ist ein Moment, innezuhalten. Wie früher der Handwerksbursche an einer Weggabelung sich die Stirne abwischte und sich fragte, woher komme ich, wo bin ich, wohin will ich.

Jetzt kommt dann noch die Impfung, die alles wieder in den Hintergrund drängt. Noch ein halbes Jahr, dann ist alles wieder wie vorher. Und dann machen wir wieder gleich weiter wie vorher.

Das ist eine grosse Wahrscheinlichkeit. Aber es bleiben doch gewisse Sachen hängen. Wie beispielsweise auch bei der 68er Bewegung, die auf den ersten Blick keine grossen Veränderungen gebracht hat. Aber da ist viel mehr hängengeblieben als man meint. Die Hinterfragung von Autoritäten, das Verhältnis von Mann und Frau etc. Da ist viel mehr passiert als man meint. Auch von der Corona Zeit wird einiges hängen bleiben und eigentlich ist die Impfung eine Riesenchance, die uns zu einem Courant normal zurückführt.

Und dann kann man sich die Frage stellen, was aus der Coronazeit geblieben ist. Was hat sie für Auswirkungen gehabt.

Der Mensch lebt davon, dass er unglaublich anpassungsfähig ist, sonst würden wir nicht überleben – und dass er sehr schnell bereit ist, zu vergessen.

Und dass er sehr innovationsfreudig ist – siehe Entwicklungszeit des Impfstoffes.

Also seien wir doch hoffnungsvoll.

(Interview: Kurt Schaad)