Martin Wittwer: «Fachkräftemangel war bereits vor Corona ein Thema»

Martin Wittwer, SRV-Präsident und ex CEO TUI Suisse, äussert sich im TRAVEL INSIDE Interview zu den Chancen und Risiken der Reisebranche.
Martin Wittwer © TRAVEL INSIDE

Martin Wittwer, wie sehen Sie als ex CEO die Chancen für die Reisebranche, kurzfristig für 2023 aber auch darüber hinaus?

Wenn man den Bereich Outgoing ansieht, bin ich trotz einem schwierigen Umfeld überzeugt, dass die Branche positiv in die Zukunft blicken kann. Wir sind krisenresistent und es gibt zudem auch viele positive Aspekte. Zwar steht die Branche vor vielen Herausforderungen, aber ich traue ihr zu, dass wir diese gemeinsam meistern können.

Welches ist aus Ihrer Sicht die Problematik, welche die grösste Herausforderung für 2023 darstellt?

Die Herausforderungen sind der Fachkräftemangel, die Inflation, Covid bedingte Reisebeschränkungen, mögliche Streiks und Engpässe im Luftverkehr, der Krieg in der Ukraine, welcher wie ein Damoklesschwert über uns schwebt, und zum Schluss noch die Energiekrise

Die einzelnen Herausforderungen überschneiden sich oder stehen in einer gegenseitigen Abhängigkeit, weshalb ich nicht sagen könnte, welches nun spezifisch die grösste Herausforderung ist.

Aber haben diese einen Einfluss auf das Konsumverhalten der Schweizer Bevölkerung im nächsten Jahr?

Definitiv haben diese Aspekte einen Einfluss auf das Buchungsverhalten. Aber wenn man die Indikatoren betrachtet, erkennt man gegenläufige Entwicklungen, die unser Geschäft positiv beeinflussen.

Es gibt einen Nachfragestau, der sich auflöst. Das Reisegeschäft kommt zurück, insbesondere im Pauschalreisegeschäft im Sommer 2022, lag der Buchungseingang bereits über demjenigen von 2019. Betrachten wir das laufende Wintergeschäft sehen wir, dass die Buchungen sich weiterhin positiv entwickeln.

Die Fernreisen liegen im Erfüllungsgrad bei rund 80% gegenüber vor der Pandemie, somit ist die Entwicklung auch hier sehr positiv, sowohl bei den grossen Veranstaltern, Spezialisten als auch bei den Retailer. Beim Business Travel kommt das Geschäft schrittweise zurück. Dies mit einer besseren Margenqualität.

Heute, insbesondere aus Sicht der Veranstalter, haben wir eine sehr gute Margenqualität. Die Preise sind höher, der Kunde ist zahlungsbereit und somit können höhere Margen trotz kurzfristigeren Buchungsverhalten erzielt werden.

Zusammengefasst, die Menschen wollen Reisen, das Pauschalreisegeschäft brummt, die Fernreisen kommen zurück, die Kursentwicklung gleicht die Inflation aus und die Margenqualität ist gut. Dies sind alles positive Indikatoren und die Menschen buchen trotz der erwähnten Herausforderungen wie Energiekrise, Krieg, Inflationsrate ihre Reisen.

Meine Schlussfolgerung daraus ist, dass es eine Frage des Mindset ist. Wenn ich positiv bin und weiss, dass ich etwas bewältigen kann, wird die krisenerprobte Branche diese nicht einfache Situation auch bewältigen.

Ist denn aus Ihrer Sicht das Verhältnis zwischen Veranstaltern und Retailer, also im klassischen Reisegeschäft, besser als vor der Pandemie? Kommt es dabei zu einem Revival, auch gegen den Online-Vertrieb?

Bereits vor Covid habe ich die Meinung vertreten, dass sich das Geschäftsmodell verändert. Die Menschen wollen immer noch Reisen. Man kann das Geschäft nicht mehr gleich betreiben wie zwischen 2010 und 2018, das Konsumverhalten hat sich verändert und die Digitalisierung nahm auch im klassischen Reisegeschäft zu.

Aber wenn es einen Trend gibt, gibt es auch immer einen Gegentrend. Mit der Krise erhielten die Reisebüros einen schönen Steilpass bezüglich Sicherheit und Qualität. Diejenigen die dies nutzen und konsequent kommunizieren, haben eine sehr gute Basis für die Zukunft gelegt.

Wer den Kunden ins Zentrum rückt, den Servicegedanken aufrecht hält, dies auf den richtigen Kanälen kommuniziert, und dazu gehören heute auch die digitalen Kanäle, seine Prozesse optimiert, der hat sehr gute Zukunftsperspektiven. Für denjenigen der glaubt, das Geschäft funktioniere noch wie während der vergangenen 15-20 Jahre und käme einfach so zurück, wird es sehr schwierig.

Langfristig sehen Sie für die klassische Outgoing-Branche gute Chancen?

Ja, wenn sie sich mit der Zeit und mit dem Kunden verändert und die Kundenbedürfnisse befriedigt.

Wie gross ist der Einfluss des Fachkräftemangels auf den Geschäftserfolg?

Zwei Faktoren sind entscheidend, um im Tourismus-Outgoing das Geschäft erfolgreich betreiben zu können. Das eine sind die Softfaktoren, also die Menschen. Da geht es darum die richtigen und die richtig motivierten Mitarbeiter*innen an Bord zu haben. Das zweite ist die Technologie, die auf dem heutigen Stand sein muss. Wenn diese Faktoren stimmen, kann das Geschäft auch in Zukunft erfolgreich betrieben werden.

Dabei gibt es aber Unterschiede zwischen einem Retailer und einem Veranstalter. Wo sind diese Faktoren stärker gefragt?

Die Herausforderungen sind teils unterschiedlich, aber die Software, d.h. der Mensch, der etwas bewirkt oder entwickelt, u.a. auch in Systemthematiken, ist in beiden Bereichen entscheidend. Im Retail ist zudem der persönliche Service ausschlaggebend.

Der Retailer ist B2C und der Veranstalter ist B2B getrieben. Ist das richtig?

Teilweise, heute muss ein Veranstalter beide Vertriebskanäle betrachten und der Retailer wird zum Micro Tour Operator.

Wer hat in Zukunft die grösseren Überlebenschancen? Der Veranstalter oder der Retailer?

Die klassische Rollenverteilung Reiseveranstalter und Retailer gab es schon vor der Pandemie nicht mehr. Die Grenzen sind verwischt und alle sitzen im selben Boot.

Derjenige der es gut macht und das Geschäftsmodell den Markt- und Kundenbedürfnissen anpasst,  egal ob Retailer oder Veranstalter, hat seine Chancen und kann sie nutzen.

Zurückkommend auf den Fachkräftemangel. Was ist das Grundproblem, dass diese Branche, wie auch viele andere, damit konfrontiert sind und was kann sie dagegen unternehmen? Geht es nur um Löhne, oder um das Image der Branche oder um Zukunftsaussichten?

Es sind verschiedenste Faktoren. Der Fachkräftemangel war bereits vor Corona ein Thema, aber im Nachgang der Krise hat sich dieser in der ganzen Dienstleistungsbranche, im In- und im Ausland, akzentuiert. Allerdings scheint es sich wieder etwas zu beruhigen, hallt aber noch nach und wird uns weiterhin beschäftigen.

Das hat aber damit zu tun, dass während der Krise sehr vielen Leute gekündigt wurde und jetzt, mit dem Re-start werden diese wieder gesucht.

Ja stimmt, es gab aber auch unterschiedliche Ansätze. Das ist sehr unterschiedlich. Gewisse Unternehmen mussten Kosten reduzieren und deshalb Mitarbeiter*innen kündigen, andere operierten mit Kurzarbeit und vor allem jüngere, kehrten der Branche ganz einfach den Rücken.

Weshalb?

Dies ist auch eine Frage des Image und damit verbunden, ob die Branche krisenresistent ist und eine Zukunft für die beruflichen Perspektiven bietet. Diesem Punkt müssen wir entgegenwirken in dem wir erklären, dass wir eine Branche sind, in der weltweit jeder zehnte Erwerbstätige arbeitet, eine Branche, die die Krise meisterte und diese positive Meldungen aktiv kommunizieren.

Das zweite Thema ist natürlich die Verdienstmöglichkeit und der dritte Aspekt die Demografie.

Inwiefern kann der SRV da unterstützen?

Als SRV müssen wir die Rahmenbedingungen für die Mitglieder optimieren. Einerseits müssen wir in die Grundausbildung investieren, damit wieder neue Nachwuchskräfte heranwachsen. Was wir mit dem Quereinsteigerprogramm im kommenden Jahr initialisieren, ist aus meiner Sicht richtig und wichtig.

Wichtig aber bleibt, dass wir am Image arbeiten.. Das Wort Reisebüro klingt gegen aussen nicht sehr attraktiv Wir müssen aufzeigen, dass der Tourismus ein spannendes, vielfältiges und zukunftsgerichtetes  Betätigungsfeld ist, in dem sich jüngere und ältere Menschen entfalten können. Diesen Trumpf müssen wir verstärkt ausspielen und kommunizieren.

Interview: Angelo Heuberger