Martin Wittwer: «Zusammenstehen, für Einzelspieler hat es keinen Platz»

Der ehemalige Chef von TUI Suisse sieht Handlungsbedarf in der Kommunikation mit der Basis und mahnt die Reisebranche zur Geschlossenheit.
Martin Wittwer. ©TI

Martin Wittwer, Sie haben Ende Februar als TUI-Chef Schweiz aufgehört, gerade als die Corona-Krise sich ankündigte und knapp bevor sie richtig ins Rollen kam. Sind sie froh, rechtzeitig aufgehört zu haben oder bedauern Sie es, jetzt nicht gestalterisch mitwirken zu können?

Zwei Herzen schlagen in meiner Brust. Einerseits sage ich mir, ich habe den bestmöglichen Zeitpunkt getroffen. Der zweite Gedanke ist, dass ich jetzt aussen vor bin in der Branche, in der ich mehr als 40 Jahre gearbeitet habe. Und wenn ich sehe, wie es der Branche geht, tut mir das weh. Es ist, wie wenn ich am Rande eines Fussballfeldes stehe, dass nicht mehr bespielbar ist, auf dem aber die einzelnen Spieler immer noch zu spielen versuchen. Ich bin nicht ein Mensch, der gerne an der Seitenlinie untätig herumsitzt und zuschaut.

Was machen Sie jetzt beruflich? 

Als ich bei TUI aufhörte, hatte ich ein weisses Blatt vor mir. Alles war offen. Klar war für mich, dass es zwei Optionen gibt: Entweder die Selbständigkeit oder eine neue Anstellung in einer geschäftsführenden Position, in der ich etwas bewegen kann. Ich habe mich nun entschieden, den Weg in die Selbständigkeit zu wählen.  Ich habe auf den 1. August meine eigene Firma WITTWERMARTIN.CH gegründet. «Leadership auf Zeit» ist meine Vision. Interim-Management, Consulting und Entwicklung von Start-ups sind die Themenfelder die ich abdecke. Dank meiner langjährigen CEO Erfahrung kann ich strategische Aufgabenstellungen flexibel und verantwortungsvoll mit meinen Kunden lösen.

Wie sehen Sie die Branche heute?

Die Branche ist in einer so derart schwierigen Situation, die sich kaum mehr in Worte fassen lässt. Alle kämpfen ums Überleben, der Grosse wie der Kleine. Das beschäftigt mich sehr. In dieser Situation kann man nur zusammenstehen, für Einzelspieler hat es jetzt keinen Platz mehr.

Reagiert denn die Branche richtig auf die Krise?

Von der Seitenlinie betrachtet finde ich, dass die Branche zu wenig agiert und zuviel reagiert. Die existentiellen Forderungen sind zuwenig abgestimmt und werden nicht transparent kommuniziert. Deshalb herrscht an der Basis Unruhe und Unsicherheit.

Welche Forderungen sind das?

Wir müssen uns in der Branche einsetzen für einen Hilfsfonds, der das Überleben der Reisebranche ermöglicht, die unverschuldet in diese Situation geraten ist und einen Umsatzrückgang von über 80% verkraften muss. Zweitens müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, so dass die Outgoing-Reiseindustrie eine Zukunft hat.

Und die die leidige Geschichte mit den Rückreise-Quarantänelisten?

Die gehört auch dazu. Der Bund darf nicht länger gegen uns arbeiten, sonst wird er zum Totengräber der Reiseindustrie. Die Listen müssen klar und regelmässig zu verlässlichen Zeitpunkten publiziert werden und statt Quarantäne ist ein Corona-Test am Flughafen obligatorisch. Dies wird in Frankreich und Deutschland so praktiziert.

Und was ist mit der vom SRV verlangten Änderung des Pauschalreisegesetzes?

Die aktuelle Krise hat nichts mit dem Pauschalreisegesetz zu tun. Eine  Thematik ist, dass die Airlineindustrie keine Kundengeldabsicherung hat. Diese Veränderungen müssen wir nach der Krise angehen.

Gilt das für alle, Retailer, TO und Airlines, gleichermassen?

Im Grundsatz sitzen wir alle im gleichen Boot. Jeder kämpft ums Überleben und trotzdem fühlen sich viele der Marktteilnehmer alleine gelassen und schliessen sich deshalb zu Selbsthilfegruppen zusammen. Wenn ich vom Forderungskatalog  der Branche rede, müssen wir die Anliegen der unabhängigen Reisebüros, Comercialbüros, Spezialisten, Veranstalter und Vertriebsketten miteinbeziehen. Die Airlines, Hotelketten und Kreuzfahren lasse ich in meiner Betrachtung aussen vor.

Agieren statt reagieren, was meinen Sie damit?

Um beim Bild vom Fussball zu bleiben: Es muss ein klares Spielkonzept erkennbar sein, und es gibt nur einen Captain, der die Mannschaft anführt.

Wer ist der Captain?

(denkt lange nach) In einem Krieg wäre es einer wie der Winkelried, der das kann und vorne hinsteht. Um auf den Punkt zu kommen, meiner Meinung nach ist der Verband der richtige Captain.

Welcher?

Der Schweizer Reise-Verband (SRV) muss die Führungsrolle übernehmen.

Wieso der SRV?

Der SRV ist der grösste Verband und vereinigt alle Interessen der Branche. Er muss sich für das Wohle der Branche und seine Mitglieder einsetzen und ist nicht wirtschaftlich getrieben. Somit hat er keine Interessenkonflikte zu Leistungsträgern und zu Versicherungslösungen. Deshalb kann der SRV sich neutral politisch einsetzen und nimmt die Führungsrolle ein. Zudem hat er eine gute Infrastrukur welche die Verbandsarbeiten unterstützt. Er st für mich deshalb der «Dachverband». Als solcher hat er die ganz grosse Aufgabe zu integrieren und nicht auszugrenzen: Er muss sich in Krisenzeiten für alle einsetzen und die anderen Verbände und Interessengruppe ins Boot nehmen.

Was ist mit den anderen Verbänden, STAR und TPA? 

STAR ist aus meiner Betrachtung kein eigentlicher Verband, sondern vielmehr eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft mit einer Einkaufsorganisation und einer Kundgeldabsicherung für kleinere Reisebüros. TPA ist eine Kundengeldversicherungslösung, Einkaufsorganisation und setzt sich engagiert als Verband in der Westschweiz für die Reisebüros ein. Neben STAR und TPA gibt es noch viele andere Vereinigungen und Konstrukte wie TTS, IGUR, TACO, FAIR. Aber egal, die Diskussion darüber, wer jetzt Verband ist oder nicht, bringt uns in der Krise nicht weiter. Die Krise bietet uns die Chance, uns alle zusammenzuraufen. Die Task Force von SRV, STAR und TPA finde ich deshalb ganz wichtig. Es brauchte einfach etwas Zeit, bis alle Exponenten über ihre Schatten springen konnten.

Sie waren selber jahrelang im SRV-Vorstand – was haben Sie für die Integration getan, die Sie jetzt fordern?

Zurückschauen und sehen, was man hätte besser machen können, ist immer einfach. Ich nehme mich da nicht aus.

Ist der SRV genügend krisenfest?

So lange keine Krise herrscht, weiss niemand, wie krisenfest eine Organisation ist. In der Krise muss man zusammenstehen, integrieren und gut kommunizieren

Tut der SRV das?

Ich will nicht werten. Es gibt immer eine Lernkurve. Die proaktive Kommunikation gegen innen wie aussen ist entscheidend. Ich denke, da gibt es sicher einen Handlungsbedarf. Die Digitalisierung bietet neue Möglichkeiten, die noch zuwenig genutzt werden.

Ging es der Branche zu lange noch zu gut, wie Nationalrats-Vizepräsident und Reiseunternehmer Andreas Aebi letzthin im Interview mit TRAVEL INSIDE sagte, so dass man sich Grabenkämpfe leisten konnte?

Wie in jeder Branche gibt es verschiedene Ansichten unter den Markteilnehmern und den Mitbewerbern. Die Interessenlage von Veranstaltern und Vertrieb sind auch nicht immer deckungsgleich- In der Schweiz wollen wir aber auch immer wieder föderalistisch zusammenkommen. Wir haben nicht alles falsch gemacht. Der SRV war immer auch eine Plattform, um gemeinsame Lösungen zu suchen und die Marktteilnehmer zusammenzuführen. Das Problem heute ist aber, dass wir in einer nie dagewesen Krise stecken und es um das nackte Überleben geht.

Sie fordern Leadership – fehlt die im SRV, braucht er eine neue Führung?

Das ist jetzt nicht die vordringliche Frage. Es ist jetzt absolut nicht der richtige Zeitpunkt, über einzelne Exponenten zu diskutieren oder politische Spielchen zu machen.

Stehen Sie zur Verfügung?

Ich stelle meine Expertise allen Marktteilnehmer zur Verfügung, wenn ich angefragt werde und ich unterstützen kann. Aber ich sehe meine Rolle heute nicht im Lead.

Im Moment schaut es aus, als ob André Lüthi den Lead hätte.

Ich finde es in der heutigen Konstellation richtig, dass André Lüthi in seiner Rolle als Leiter Politik im SRV den Lead übernimmt und auch aktiv vorwärts treibt.

Ein Problem ist doch, dass der SRV – auch mit Ihnen als TUI-Vertreter im Vorstand – die Interessen der Grossen vertrat und die kleinen unabhängigen Reisebüros aussen vor liess. Das hat, jetzt in der Krise, zum Vulkanausbruch geführt.

Diesen Punkt habe ich viel gehört und kann ihn aber nur teilweise nachvollziehen. Die Grossen benötigen ja nicht zwingend den Verband. Wichtig ist wirklich, dass sich kompetente Opinionleaders aus der Basis zur Verfügung stellen und sich aktiv im Verband engagieren. Der SRV muss aber zwingend wieder mehr Bodenhaftung in der Basis erreichen.

Haben Sie Natalie Dové als Retailer-Vertreterin als Vorstandsmitglied lanciert?

Egal wer sie lanciert hat, sie ist die Antwort auf die Frage, wieso der Verband nur von den Grossen dominiert wird. Natalie Dové hat sich bereit erklärt, diese Rolle aktiv auszuführen und sie ist eine wichtige Bereicherung im Vorstand und kann die Anliegen der unabhängigen Reisebüros bestens vertreten.

Sie kam zu spät in den Vorstand und wurde von ihm zu wenig gehört und eingebunden.

Gut ist, dass  der SRV Natalie Dové als Vorstandsmitglied geholt hat. Die Frage, ob Sie aus Bindeglied zu der Basis auch richtig miteinbezogen wird, ist berechtigt. Persönlich bewundere ich den selbstlosen, engagierten Einsatz von Natalie Dové für die Branche sehr.

Und Sie engagieren sich jetzt an vorderster Front bei der Aktion Mayday und arbeiten so gegen den SRV.

Das stimmt so nicht. Ich bin bei Mayday nicht aktiv involviert. Aber ich habe immer gesagt, dass ich ein offenes Ohr für die Branche habe und bei Bedarf auch mit Rat zur Seite stehe. Deshalb stehe ich ab und zu auch in Kontakt mit Mayday.

Alle sollen zusammenstehen, sagen Sie, trotzdem unterstützen Sie Mayday.

Was Mayday macht, finde ich beeindruckend. Die Grundidee von Mayday ist ja genau, dass die Branche gemeinsam auftritt, transparent kommuniziert und die Anliegen der Branche mit Druck vorantreibt. Deshalb kann ich das Anliegen auch gut unterstützen.

Wie sehen Sie die Anliegen der Basis, der Aktion Mayday oder der Gruppe 53 oder 78?

Bei den unabhängigen Reisebüros geht es ums blanke Überleben. Jeder Tag zählt. Mit Versprechungen wie «Hilfe kommt» oder «Vertrauen haben» kann die Basis nicht mehr lange hingehalten werden. In dieser Situation muss man miteinander reden, sich austauschen und miteinander kämpfen.

Sie sprechen die Information über die Interventionen beim Bund für Hilfe an die Reisebüros an. Beim SRV heisst es, man habe mit dem Seco Stillschweigen vereinbaren müssen über die Inhalte der Verhandlungen und dürfe darum nichts kommunizieren.

Das ist doch ein Witz! Ein Verband vertritt die Interessen der Mitglieder und die Verbandsspitze ist die Stimme der Mitglieder. Wie gesagt, die Mitglieder wollen wissen, welche Forderungen die Task Force, sprich die Verbände, gestellt hat. Details aus den Verhandlungen unterliegen vielleicht einem Stillschweigen, wenn man dies so vereinbaren musste. Ich sehe deshalb keinen Grund, weshalb die Task Force nicht klar sagen kann, mit welchen Forderungen, Anregungen und Argumenten die Gespräche geführt werden.

Natürlich kann man auch hervorheben, was man schon erreicht hat. Zum Beispiel den Rechtsstillstand, der den Reisebüros zumindest etwas Luft verschafft. Die Kredite, die man unbürokratisch schnell erhalten hat – anders als in anderen Ländern. Auch die Kurzarbeit hat der Branche viel genützt.

Die es jetzt für Inhaber nicht mehr gibt.

Die Kurzarbeit ist wie gesagt sehr hilfreich. Für die kleinen unabhängigen Inhabergeführten Reisebüros aber nur beschränkt tauglich, da diese die KAE nicht in Anspruch nehmen können. Hier konnte die Task Force bis jetzt in Bern mit ihren Forderungen noch nicht durchdringen.

Neben den grossen politischen Fragen haben die kleinen Reisebüros jetzt aber eine ganz konkrete Frage: Wie kann ich Kosten sparen, um zu überleben?

Zwei Punkte: Kurzarbeit einführen und über Mieten verhandeln. Aber das ist sowieso zu kurzfristig gedacht. Die viel wichtigere Frage ist: Wie sehe ich mein Geschäftsfeld in der Zukunft und wie passe ich mein Geschäftsmodell an? Die Welt wird nach dem Sturm nicht mehr die gleiche sein. Andere Werte werden zählen, Sicherheit wird noch wichtiger, alles wird noch digitaler, die Globalisierung verliert an Bedeutung, man denkt wieder lokaler.

Was ist die Rolle des Verbands dabei?

Der Verband und der Staat müssen zusammen dafür sorgen, dass die Branche nach dem grossen Sturm wieder aufstehen kann. Und wir müssen aufhören, uns  klein zu reden. Wenn wir selber sagen, unsere Branche sei klein und nicht systemrelevant, sind wir es auch. Ist ein Weinbauer systemrelevanter? Wenn es ihm die Ernte verhagelt, bekommt er Hagelschadenausgleich – dem Reisebüro hat esbildlich gesprochen auch die Ernte verhagelt, also müssen wir auch Hagelschadenausgleich verlangen.(schmunzelt)

Mit welcher Begründung?

Grundsätzlich wurde unserer Branche ein Berufsverbot auferlegt mit der Aufforderung des Bundesrats «stay at home». Wir müssen nun die Argumente gemeinsam zurecht legen, wieso wir doch systemrelevant sind. Denn die Reisebüros haben die ganze Krise abgewickelt. Geschäftsreisen sind wie die Airlines für das Binnenland Schweiz weiterhin entscheidend und es gibt einen Mehrwert aus dem Zusammenspiel von Outgoing und Incoming.

Schlussendlich geht es auch um die Kunden. Die Schweizer sind Reiseweltmeister und die Kunden vertrauen der Branche, weil nur hier die Kundengelder abgesichert sind. Deshalb kämpft eine Branche, 8000 Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.

(Interview: Angelo Heuberger und Christian Maurer)