Opinion: Wie «systemrelevant» sind Kreuzfahrten?

Das Hochfahren des komplexen Systems wird herausfordernd sein.

Die Hoffnungen der Kreuzfahrt-Reedereien, bis Ende April ihre Aktivitäten wieder aufnehmen zu können, entpuppen sich als zu optimistisch. Jetzt, wo sich die Corona-Welle im wichtigsten Quellmarkt USA und vielen Ländern Europas erst richtig aufbaut, verschieben immer mehr Anbieter dieses Datum auf Ende Mai oder gar in den Juni hinein, was möglicherweise nach wie vor zu optimistisch ist.

Die Krise hat – wie überall – dramatische finanzielle Folgen: Die Börsenkurse der drei marktdominierenden Cruise-Konglomerate Carnival Corp., Royal Caribbean Cruises und Norwegian Holdings, die mit ihren verschiedenen Marken kumuliert rund drei Viertel der weltweit schwimmenden Betten kontrollieren, sind innert kürzester Zeit um 70 Prozent und mehr eingebrochen. Doch die Industrie kann auf goldene Jahre, ja Jahrzehnte des kontinuierlichen Wachstums und stolzer Gewinnmargen zurückblicken und sollte über einige Reserven verfügen. Kumuliert erzielten die drei Cruise-Giganten allein 2019 ein Ergebnis nach Steuern von rund 5,8 Milliarden US-Dollar. Wobei das Stichwort Steuern in den USA angesichts der Billigflaggen-Praxis der Reedereien nun für Diskussionen sorgt: Bevor es auch für diese Reedereien Unterstützung aus dem 2-Billionen-Dollar-Hilfspaket gebe, sollen sie mal sämtliche Steuern in den USA bezahlen, liess Trump verlauten. Eine Diskussion, die vielleicht auch in anderen Ländern noch aufkeimen wird. Eine andere Frage ist, ob sämtliche weiteren kleineren, unabhängigen Reedereien die Krise überstehen werden.

Auch wenn die Aktivitäten der Reedereien diesen Sommer wieder aufgenommen werden können, wird kaum umgehend «business as usual» herrschen. Mit Lohn-Einbussen durch Kurzarbeit, im schlimmsten Falle Arbeitslosigkeit, Verschuldung, Firmenverlusten oder gar Konkursen, wegfallenden Dividendenauszahlungen etc. steht auf Monate hinaus bei vielen Menschen weniger Geld für unbeschwerte Ferienreisen zur Verfügung. Ob dann Kreuzfahrten gleich erste Priorität haben werden, ist zu bezweifeln: Die Bilder der folgenschweren Misswirtschaft des Corona-Ausbruchs auf der Diamond Princess oder aktuell die tragische Irrfahrt der Zaandam mit Infizierten und gar Toten an Bord dürften das Image der Kreuzfahrtschiffe als Brutstätte für Virenerkrankungen noch einige Zeit beeinflussen. So wie dies 2012 nach der Costa Concordia-Havarie in Sachen Sicherheit der Fall war. Man kann davon ausgehen, dass die Nachfrage dann über die Preisschraube angekurbelt wird.

Die Reedereien werden natürlich bemüht sein, dereinst so rasch wie möglich ihre Fahrten wieder aufzunehmen. Dabei wird das Hochfahren eines vielschichtigen globalen Systems von allfällig neuer Routenplanung über die gesamte Logistik bis zur Besatzung und dem Marketing herausfordernd sein. Bestimmt wird man auch die Gesundheits-Prophylaxe an Bord unter die Lupe nehmen, die aber auf Grund der Norovirus-Erfahrungen schon bis anhin mit Desinfektionsdispensern, strengen Vorschriften für die Staff etc. auf Schiffen hoch gewichtet war. Diskutiert wird zudem, ob für über 70-jährige Passagiere mit Vorerkrankungen künftig striktere Vorschriften eingeführt werden sollten.

Nicht zuletzt wird man da und dort wohl froh sein, dass in vielen Werften derzeit die Arbeit weitgehend ruht und die Neubauten nun kaum im vorgesehenen Rhythmus ausgeliefert werden können. Im Gegensatz zur landgestützten Hotellerie haben die Cruise-Reedereien zudem einen grossen Vorteil: Sie können ihre schwimmenden Hotels dorthin verschieben, wo der Markt wieder anzieht. Zweifellos werden Kreuzfahrten früher oder später ihren gebührenden Platz als erholsame, kurzweilige und erlebnisreiche Ferien- und Reiseformel wieder einnehmen. Dann ist die Industrie aber umgehend gefordert, sich wieder mit aller Dringlichkeit um andere, derzeit aus den Schlagzeilen verdrängte Fragen rund um Emissionen und Klimawandel oder Gigantismus und Overtourism auseinander zu setzen.