Durch das Spiegelkabinett: Eine Perspektive auf 2022

INSIDER KOLUMNE von Peter Baumgartner. Der ehemalige Spitzen-Airliner blickt im TRAVEL INSIDE ins nächste Jahr und macht Mut für die Zukunft.

Auf eines der berühmtesten Kinderbücher aller Zeiten, «Alices Abenteuer im Wunderland», folgte das nur ein bisschen weniger berühmte «Alice hinter den Spiegeln». Darin beschreibt der Autor Lewis Carrol die Reisen von Alice, nachdem sie durch einen Spiegel in eine unwirkliche Welt mit unlogischen Regeln gelangt. Eine Welt, die wir alle – leider – auf gewisse Weise auch kennengelernt haben.

Jetzt, wo wir uns den Festtagen nähern, ist wieder einmal Zeit für ein wenig Introspektion. Zeit, sich einen Reim darauf zu machen, was in der Welt vor sich geht. Aber um ehrlich zu sein, das ist nicht ganz so einfach. Selbst für einen ewigen Optimisten wie mich. Dennoch bin ich positiv gestimmt. Und das ist der Grund dafür:

Aus rein geschäftlicher Optik stimme ich mit der IATA überein: Im Jahr 2021 hat sich das Blatt gewendet. Wir haben den Tiefpunkt dieser Phase der Disruption hinter uns. Aus gesundheitlicher Sicht – und ich bin wahrlich kein Experte auf diesem Gebiet, ich kann einzig Quellen recherchieren und Menschen zuhören, denen ich vertraue – sieht es ebenfalls besser aus. Es ist eine Tatsache; wir stehen heute besser da als noch vor 12 Monaten. Es kommt eine Vielzahl neuer Medikamente in neuen Formen auf den Markt, die es leichter machen dürfte, mehr Menschen zu erreichen.

Ja, ich glaube, das Licht am Ende des Tunnels wird immer heller. Das ist die Hoffnung, die mich leitet, auch wenn Behörden und Unternehmen auf der ganzen Welt jetzt wieder vorsichtiger werden. Der Winter wird nicht einfach, das ist sicher. Aber wir können nicht mehr nur aus der Defensive funktionieren. Wir können nicht weiter in kleinen Dimensionen denken und handeln.

Vor einem Jahr habe ich dafür plädiert, das Jahr 2021 als ein Jahr des Aufbruchs zu betrachten, als einen Neuanfang. Rückblickend muss man wohl konstatieren, dass uns dies als Gesellschaft nicht in allen Bereichen gelungen ist. Dennoch bin ich überzeugt: Wenn Ihr Unternehmen heute relativ stabil ist, dann haben Sie und Ihre Teams Veränderungen akzeptiert, auf Ihre Kunden gehört und mutig die eine oder andere Chance ergriffen. Sie waren agil und innovativ. Resilient. Sie haben Chancen erkannt, während sich andere versteckt haben. Tönt das nach Ihnen? Dann habe ich höchsten Respekt vor dem, was Sie erreicht haben.

Diejenigen, die rechtzeitig in ein unternehmensweites Konzept für ein integriertes Risiko- und Resilienzmanagement investiert haben, befanden sich in einer besseren Wettbewerbssituation, als die Pandemie ausbrach. Ihr Krisenmanagement war einfach effektiver, und es gab genügend Spielraum, um über den Tellerrand hinauszuschauen und Chancen zu nutzen. Ich habe in der Tat viele solcher Vorbilder gesehen: in der Luftfahrtindustrie, in den Unternehmen, die ich berate, bei grossen Technologieunternehmen und kleinen Nischenanbietern gleichermassen. Es gibt eine Menge kluges Verhalten da draussen, und sie alle verdienen Achtung und Respekt.

Für mich ist klar: Es ist definitiv an der Zeit, ein für alle Mal aus diesem mentalen Gefängnis der Pandemie auszubrechen. Die Herausforderung besteht heute darin, über sich selbst hinauszuwachsen. Mutig, kühn und furchtlos zu sein. Aber aufgepasst: Wir wissen alle, dass furchtlos und leichtsinnig nicht dasselbe sind.

Neue Realitäten bringen neue Verantwortung

Unser Anspruch kann nicht länger sein, «die Zukunft zu gestalten». Wir befinden uns bereits in dieser Zukunft. Wir müssen uns den neuen Realitäten stellen. Vor allem Führungskräfte und Führungsteams müssen sich einem Reality Check unterziehen. Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der sich Führungskräfte hinter langfristigen Strategien, Trends und Visionen «verstecken» können. Viele grosse Entscheide von Führungskräften waren in der Vergangenheit nur schwer über die Zeit einzuschätzen. All die externen Faktoren und Einflüsse, all das Unvorhersehbare, all die Fluktuation, bevor ein Unternehmen die Früchte ernten konnte (oder auch nicht) – da liessen sich viele Executives bequem von jeglichen Konsequenzen oder Verantwortlichkeiten freisprechen.

Das ist heute keine Option mehr. Die Unberechenbarkeit von Covid erlaubt es niemandem, sich hinter der Vergesslichkeit des hektischen Alltags, den Verschleierungen der globalen Transformation oder dem Adrenalinrausch der wirtschaftlichen Beschleunigung zu verstecken. Stattdessen erhalten viele gute alte Tugenden ein neues Gewicht: Wir müssen Verantwortung für das Hier und Jetzt übernehmen; wir treffen heute Entscheidungen, für die wir morgen einstehen müssen; was wir heute beschliessen, muss morgen umsetzbar sein. Führungsqualitäten können in Echtzeit gemessen werden. Diese neue Unmittelbarkeit wird einigen schwerfallen.

Ich weiss sie zu schätzen. Führung und Verantwortung sind jetzt (wieder) echte Tugenden und nicht professionell verwaltete Selbst-PR. «Leadership» bedeutet, den Mut zu haben, innovative Wege zu gehen und echte Verantwortung dafür zu übernehmen. Dafür einzustehen. Nicht, sie als Vermächtnis von kaum verwertbarem Managementunsinn an die nächste Generation weiterzugeben.

Gross denken oder untergehen

All das bedeutet aber nicht, dass wir unsere Ambitionen aufgeben müssen. Ich würde meine Energie folgendermassen einsetzen:

  • Die Normalisierung trotz Covid in den Griff bekommen. Und wie? Indem wir gross denken. Indem wir mutig sind. Indem wir uns ehrgeizige Ziele setzen. Indem wir Wachstum anstreben. Sie müssen jetzt die Voraussetzungen für Wachstum schaffen, auch wenn es gegen Ihre Intuition, gegen Ihre konventionellen Prognosen oder gegen die Meinung Ihrer Kollegen geht. Es lohnt sich, antizyklisch zu denken.
  • Konzentrieren Sie sich auf die Entwicklung nachhaltiger Geschäftsmodelle für heute und morgen. Sie müssen Klarheit haben, was Ihr Unternehmen wirklich widerstandsfähig macht gegenüber Störungen, Veränderungen und Unvorhersehbarkeiten. Denn diese werden bleiben, und zwar für immer. Oh, und streben Sie CO2-Neutralität an – mit allen Konsequenzen.
  • Treiben Sie die Entwicklung alternativer Businessmodelle voran. Erleichtern und fördern Sie systematisch Innovation und Agilität. Agilität ist eine unmittelbare Notwendigkeit, kein hipper Trend. Das bedeutet auch, und hier wiederhole ich mich vielleicht, neue Formen der Zusammenarbeit zu fördern. Nutzen Sie die Zusammenarbeit und die Macht der Start-ups. Jetzt oder nie.
  • Stellen Sie «Vertrauen» über alles andere. Sie müssen einen Weg finden, Ihre Reputation proaktiv und systematisch zu managen. Wenn Kunden und andere Interessengruppen Ihrer Marke, Ihrem Geschäftsmodell oder Ihren Mitarbeitenden nicht vertrauen, dann hat das unmittelbare, unangenehme Folgen. Wissen Sie wirklich, wie Ihre Zielgruppen Vertrauen definieren? Wissen Sie wirklich, welche Faktoren über Ihren Ruf entscheiden? Die Pandemie hat die Bedeutung von Vertrauen noch einmal verstärkt, vor allem für die Dienstleistungsbranche und insbesondere die Luftfahrt.
  • Schauen Sie sich Ihre «Purpose» noch einmal an. Purpose ist nicht mehr nur eine Ambition, sondern die treibende Kraft von Organisationen. In der Branche, mit der ich am meisten vertraut bin, bedeutet dies: Menschen glücklich machen, indem man sie zusammenbringt. Unternehmen und Handel effizienter machen. Positive Erlebnisse schaffen und Erwartungen übertreffen. Denken Sie also darüber nach, wo und wie Ihre Stakeholder Ihre «Purpose» erleben – in den grossen, strategischen Dingen und in den kleinen, täglichen Begegnungen mit Ihrer Marke.
  • Stärken Sie Menschen und Organisationen durch Technologie – mehr noch als bisher. Laut Forrester sehen 8 von 10 Kunden die Welt als “rein digital” an. Und genau das erwarten sie auch von Marken. Die Industrie 4.0 ist da, ebenso wie die Sharing Economy und Peer-to-Peer-Plattformen. Denken Sie über Technologie ganz praktisch nach: digitale Zertifikate, «kontaktlos», Kundenservice über Chats, virtuelle Touren der Reiseziele, und so weiter und so fort. Vergessen Sie bei all dem nicht, in Cyber Security zu investieren.

Was bleibt noch zu sagen? Nur dies: Wir alle müssen wieder lernen, konstruktiv zu streiten. Wir müssen wieder lernen, nicht derselben Meinung zu sein, und trotzdem gemeinsam auf eine bessere Zukunft hinzuarbeiten. In der Pandemie und den damit verbundenen Emotionen haben wir grosse Rückschritte bei einer Tugend gemacht, die wir unbedingt bewahren müssen. Wenn wir in unseren jeweiligen Ökosystemen erfolgreich zusammenarbeiten wollen, gilt es, diesen unglücklichen Trend umzukehren. Dies ist mein aufrichtiger Wunsch für das Jahr 2022, denn konstruktive Zusammenarbeit trotz unterschiedlicher Perspektiven ist in der Tat der Schlüssel zur Bewältigung vieler aktueller Herausforderungen.

Ihnen wünsche ich von ganzem Herzen, dass Sie und Ihre Lieben sicher und gesund bleiben. Lassen Sie uns die Feiertage nutzen, um wieder einmal mit tiefem Herzen zu feiern. Und lassen Sie uns mit grossem Ehrgeiz in das Jahr 2022 starten!

(Peter Baumgartner)