«Immer noch ein Umsatzminus von 40% zu Vor-Corona»

Im zweiten Teil des Gesprächs mit TRAVEL INSIDE schaut Mittelthurgau-Geschäftsführer Stephan Frei vorwärts auf die anstehende Saison 2022.
Mit Innovationen aus der Corona-Krise ©Reisebüro Mittelthurgau AG
Stephan Frei im Hauptsitz in Weinfelden.
© BE

Stephan Frei, mit welchem Ansatz packte Mittelthurgau nach zwei bitteren Coronajahren die Produktion für die Saison 2022 an?
Der Fokus liegt unverändert auf unserem eigenen Excellence-Produkt, das wir in den letzten zwei Jahren grundlegend neu überdacht haben. Wir möchten den bisherigen Gruppenreisen-Charakter der Flussfahrt aufbrechen, weil wir es heute mit einem anderen, neuen Zielpublikum zu tun haben.

Die Babyboomer denken anders als die Vorgänger-Generation, sie sind reiseerfahren, verlangen mehr Inhalte, mehr Individualität, mehr Authentizität. Wenn wir diese Generation an Bord holen wollen, müssen wir mit einem entsprechend innovativen Produkt aufwarten. Deshalb haben wir mit ‘Mittelthurgau Mittendrin’ ein gänzlich neues An-Land-Konzept entwickelt, das nun in dieser Saison lanciert wird.

Was kann man denn in Sachen Landausflügen total neu erfinden?
Im Mittelpunkt steht das authentische, zeitgemässe Erlebnis, Begegnungen mit interessanten Menschen und Einblicke ins wahre Leben. Standard-Ausflüge sind nicht mehr für alle Gäste das richtige. Wir möchten deshalb unseren Kunden die Möglichkeit bieten zu entdecken, wie eine Destination ‘tickt’. Wir haben deshalb für sämtliche Excellence-Routen auf allen Flüssen neuartige Ausflüge entwickelt, insgesamt über 100 an der Zahl.

Das kann ein Treffen mit einem Poetry Slammer einer Rapperin oder einem Graffiti-Sprayer sein, ein Besuch bei einer trendigen Modeschöpferin oder ein Streifzug mit einem Bauer durch die wilde Natur. Die Vielfalt der An-Land-Möglichkeiten ist für unsere Kunden somit insgesamt gewaltig gestiegen. Ich bin überzeugt, dass wir mit unserem neuen Mittendrin-Konzept auf eine gute Gästeresonanz stossen werden.

Eine Mittelthurgau-Stärke sind die Themenreisen. Sie sprechen in diesem Zusammenhang inzwischen gar von «Europas grösstem Angebot» – tatsächlich?Wir haben bereits vor fünfzehn Jahren erste Themenflussreisen entwickelt und sind somit ein Pionier dieser Reiseformel. Und ja: Mit einem auf 164 Seiten nochmals weiter ausgebauten Themenkatalog produzieren wir heute das umfangreichste Angebot. Das entspricht einerseits der Nachfrage, aber auch der zunehmenden Individualisierung und Anspruchshaltung der neuen Zielgruppen-Generation.

Mit unseren Themenreisen entwickeln wir ausgesprochene Qualitäts-Produkte, die dem steigenden Bedürfnis nach mehr Inhalt entsprechen. Viele Themen-Cruises werden von kompetenten Fach-Expertinnen und -Experten und Persönlichkeiten begleitet, was einem wichtigen Mehrwert entspricht. Unser Credo ‘ Wissen, Können und Begeisterung teilen’ bringt ganz gut auf den Punkt, wohin wir mit dieser Reiseformel wollen.

Wie wichtig sind Themenreisen überhaupt im Gesamtbild der Nachfrage?Themenflussreisen werden ja meist nur an einzelnen oder einigen wenigen Daten aufgelegt, während sich die klassischen Flussreise-Abfahrten in der Regel über eine ganze Saison ziehen. Der Anteil der Themen-Kunden am Gesamtaufkommen dürfte bei gut fünf Prozent liegen. Wichtig ist aber auch das Neukunden-Potenzial, das in diesem Segment liegt.

Sie sprechen das Gesamtangebot an: Entspricht dieses 2022 wieder der Breite vor Corona?
Im Hauptkatalog präsentieren wir das Excellence-Flussangebot 2022 auf über 320 Seiten. Alles in allem dürfte die Angebotsbreite gar über derjenigen von 2019 liegen, da wir punktuell die Saison mit Citycruises verlängert haben. Das ist auch eine Art Themenreisen, bei denen etwa Kunst und Kultur der angelaufenen Städte im Fokus stehen. Wir bieten Städtereisen auf dem Fluss seit vier Jahren an, haben da aber in der Angebotsbreite für 2022 einen grossen Zacken zugelegt.

Wie sieht es derzeit mit den Möglichkeiten ausserhalb von Europa aus?
Russland gehört zwar auch zu Europa, wird aber als Fernziel wahrgenommen. Dort haben wir die Excellence Katharina wieder im Programm, ebenso andere russische Flüsse. Ich rechne aber damit, dass sich der Start noch etwas verzögern wird. Was die Übersee-Flussziele angeht, haben diese wie alle Überseeproduktionen zu kämpfen.

Mit dem Nil in Ägypten, dem Mississippi in den USA, dem Amazonas in Südamerika oder dem Mekong in Vietnam versuchen wir, diese Produkte 2022 wieder in Gang zu bringen. Ich rechne aber damit, dass wir in Übersee frühestens 2023 wieder eine substanzielle Nachfrage sehen werden.

Welche Erwartungen hegen Sie somit insgesamt für das Jahr 2022?
Corona ist noch nicht vorüber und wir gehen davon aus, dass wir 2022 nochmals einen ‘harzigen’ Saisonstart sehen werden und mit Excellence nicht wie geplant im März ablegen können.

Das Jahr 2022 wird deshalb noch nicht an die Zahlen vor Corona kommen, aber wir erwarten eine Fortsetzung der Umsatzsteigerung, wie wir sie von 2020 auf 2021 erzielen konnten. Konkret prognostizieren wir eine Steigerung von rund 35 Prozent zum Vorjahr, was aber immer noch ein Umsatzminus von 40 Prozent zu Vor-Corona bedeuten würde. Ich bin aber optimistisch, dass wir das Ziel eines ausgeglichenen Resultats für 2022 erreichen oder diesem zumindest nahekommen werden.

Mussten die Preise angesichts der beiden letzten Verlustjahre etwas angehoben werden?
Nein, die Verkaufspreise sind stabil. Zudem profitieren Kunden von attraktiven Umbuchungsregelungen und -Rabatten, was das durchschnittliche Preisbild sogar etwas senkt.

Welches Buchungsverhalten können Sie bis jetzt erkennen?
Die Kunden buchen wie im Vorjahr kurzfristig – das ist der typische Reflex in einem ungewissen Umfeld wie Corona es uns bereitet.

Man muss der Unsicherheit mit Transparenz begegnen. Das habe wir im letzten Jahr mit unserem neuen Reiseinfo-Portal gemacht. Unsere Kunden können tagesaktuell auf unserer Webseite sehen, welche Ein- und Ausreisebestimmungen gelten, was an Land gilt und welche Flussreisen stattfinden und welche nicht.

Dieses Informationsmanagement werden wir zum Saisonbeginn erneut aufschalten, Das Ganze ist zwar aufwändig aber es hat sich bewährt. Es entlastet unseren Telefon-Service deutlich und die Kunden haben das inmitten des ‘Corona-Regelungsdschungels’ sehr geschätzt.

Noch ist Corona nicht vorüber – in welcher Form wird die Krise das Segment der Flussreisen verändern?
Ich denke, dass neben dem Wert einer sicheren Reise der Begriff Vertrauen an Bedeutung gewinnt. Als touristische Anbieter müssen wir alle glaubwürdiger und transparenter werden. Wir müssen selber die Produkteigenschaften ehrlich auf den Tisch legen, die Kunden ernst nehmen und Vertrauen schaffen.

Genau das tun die so genannten unabhängigen Bewertungsportale nicht. Der Fokus, sich Kundenvertrauen zu erwerben und zu erhalten, war immer schon die Devise unseres über 125-jährigen Mutterhauses, und das gewinnt in Zukunft weiter an Bedeutung.

Der Tourismus generell wird sich zudem noch intensiver mit den Problemstellungen auseinandersetzen müssen, die bereits vor Corona aufbrachen: Overtourismus, Natur- und Landschädigungen, Foodwaste oder die CO₂-Bilanz zum Beispiel. Solche Fragen beschäftigen die modernen Reisenden zunehmend und sie erwarten heute von der Reiseindustrie überzeugende Antworten.

Wie entspricht Mittelthurgau solchen nachhaltigen Herausforderungen?
Wir arbeiten laufend an verschiedenen Fronten der Nachhaltigkeit. Die Palette der Massnahmen reicht von der Vermeidung von Abfall, Food-Waste und Plastik über energieeffiziente Lichtsysteme, wirksame Abwasserreinigung und eine moderne Wassertechnologie bis zur Reduzierung der Emissionen durch Landstrom oder der Kompensation von CO₂.

Die Excellence Empress ist zudem das erste Passagier-Flussschiff der Welt, das mit einer Clean Air Technologie ausgestattet ist. Dadurch wird der Schadstoff-Ausstoss massiv verringert. In diesem Jahr werden wir auch die Excellence Coral damit ausrüsten. Über Wertschätzungen wie etwa den Green Award oder die Auszeichnung von MyClimate als Vorreiter ganzheitlicher nachhaltiger Flusskreuzfahrten freuen wir uns, aber wir wissen auch: es gibt auch für uns noch viel zu tun.

A propos Flotte: Auf fast allen Flüssen Europas verkehren heute Excellence-Schiffe, ausser auf dem Douro. Ist hier bald mit einem nächsten Neubau zu rechnen?
Neue Schiffsbauprojekte sind zurzeit nicht spruchreif, aber natürlich nicht ausserhalb unserer Agenda. Noch bestimmt Corona vieles: Derzeit stecken wir unsere Energie in die Stabilisierung und Weiteentwicklung unseres Produkts auf allen elf Excellence-Schiffen und zwar über die ganze Customer-Journey hinweg.

Wir wollen weiterhin die gestaltende Marke im Flussreise-Markt sein. Der Anspruch unseres Claims ‘Die kleinen Schweizer Grandhotels’ ist kein Selbstläufer, sondern muss ständig neu erarbeitet und weiterentwickelt werden.

(Interview: Beat Eichenberger)


Den ersten Teil des Interviews mit Stephan Frei finden Sie hier.