Opinion: Wie lange hält das die Kreuzfahrt noch durch?

Die von Corona äusserst hart getroffene Cruise-Industrie entpuppt sich als erstaunlich robust. Ein Blick auf die Strukturen erklärt einiges.
Beat Eichenberger, Cruise-Insider TRAVEL INSIDE und Chefredaktor «cruisetip».

Man muss sich das mal vorstellen: Seit Mitte März, inzwischen acht Monaten, steht eine ganze globale Industrie still. Weil das Segment der Kreuzfahrten seinen Betrieb Corona-bedingt weltweit einstellen musste, konnte seither (mit wenigen kaum relevanten Ausnahmen) kein Umsatz mehr generiert werden. Dies bei einer gesamtheitlichen Wertschöpfung der Industrie, die gemäss einer CLIA-Studie 2019 rund 150 Milliarden US-Dollar betrug.

Der hindernisreiche Restart

Mit dem Abflauen der ersten Corona-Welle kam es diesen Sommer in Europa zu einem sachten Restart. Unter strengen Covid-Massnahmen legten vorerst Anbieter mit kleineren Schiffen wie Hurtigruten, Seadream oder Ponant wieder gewisse Fahrten auf. Es folgten einzelne Schiffe der deutschen Reedereien TUI Cruises und Hapag-Lloyd Cruises mit Panoramafahrten in Nordeuropa. Schliesslich kehrte im Herbst auch das eine oder andere Schiff von MSC, Costa und Aida mit «Bubble»-Fahrten im Mittelmeer wieder aufs Wasser zurück. Covid-Tests für Crew und Gäste hatten sich inzwischen als Standard eingebürgert, trotzdem wurden ganz vereinzelt Coronafälle entdeckt, was aber letztlich das Funktionieren des Systems belegt.

Mit der zweiten Covid-Welle, die derzeit noch den Kontinent überrollt, werden nun viele Hoffnungen wieder zunichte gemacht: Aufgrund behördlicher Einschränkungen sowohl in wichtigen Quellmärkten wie in angelaufenen Zielländern mussten die meisten Abfahrten vorläufig wieder ausgesetzt werden. Auch wenn die Reedereien ab Dezember auf weiterführende Programme setzen, ist noch unklar, wie es im Winter tatsächlich weiter gehen wird. Und in den USA, wo bis anhin noch überhaupt keine Seereisen zur Durchführung kamen, haben die Reedereien ihre Betriebspause bis Ende Jahr verlängert. Dies, obwohl die Gesundheitsbehörde CDC die «No-Sail-Order» per 1. November aufgehoben hat – allerdings unter strengen Auflagen.

Kritische Winter-Aussichten

Nun kann man einwenden, dass Mittelmeer-Fahrten im Winter noch nie der grosse Renner für die Reedereien waren. Und mit den bisherigen Restarts, die nur mit massiv reduzierter Auslastung der Schiffe zur Durchführung kamen, konnte kein Geld verdient werden. Reedereien weisen aber darauf hin, dass die Verluste mit Restart-Fahrten geringer seien als die Kosten für die Stilllegung eines Schiffes.

Anders sieht es in der Karibik aus, dem in der anstehenden Jahreszeit eigentlich wichtigsten Cruise-Revier. Nicht nur für den weltweit grössten Cruisemarkt USA, der fast die Hälfte der zuletzt rund 30 Millionen Cruise-Pax weltweit ausmacht, sondern auch für europäische Cruiser. Ob und wie die Karibik-Saison ab Januar 2021 Fahrt aufnehmen kann, ist ungewiss. Die Umsetzung der weitreichenden CDC-Vorgaben ist für die Reedereien anforderungsreich und kostenintensiv. Ähnlich wie beim Restart in Europa dürften vorerst nur vereinzelte Schiffe mit kurzen «Cruises to nowhere» oder Abstechern zu den Reederei-Inseln den Auftakt machen. Dies alles wird aber das bereits entgangene Geschäft bei weitem nicht aufwiegen.

Von weltweiten Kreuzfahrten, einem weiteren nicht unwichtigen Angebots-Segment in den Wintermonaten, kann eben so wenig die Rede sein: Kaum ein Land in Asien, Südamerika oder anderswo, das (mit wenigen Ausnahmen für lokale Angebote) derzeit das Anlaufen von internationalen Cruiselinern erlaubt.

Eine konsolidierte Industrie

Weitere Monate also, die kaum oder nur minimste Umsätze bringen werden – wie kann die Industrie das überleben? Es mag erstaunen, dass von den geläufigeren Namen bisher erst die spanische Pullmantur und die englische CMV (mit Transocean) wegen Insolvenz das Handtuch werfen mussten. Doch ein Blick auf die Struktur der Industrie mag einiges erklären: Die Welt der Kreuzfahrten ist stark konsolidiert, das heisst, sie wird von drei bis fünf grossen Playern dominiert.

Allein das weltweit grösste Cruise-Konglomerat, Carnival Corporation, kommt mit ihren neun Marken Carnival, Costa, Aida, Princess, Holland America, P&O, P&O Australia, Cunard und Seabourn auf einen Marktanteil von gut 40% der weltweiten Cruise-Kapazitäten (Betten). Die Royal Caribbean Group hält mit den Marken Royal Caribbean International, Celebrity, Azamara, Silversea und Beteiligungen wie TUI Cruises (inkl. Hapag-Lloyd Cruises) einen Marktanteil von rund 25%. Norwegian Cruise Line Holding schafft es mit den Marken Norwegian Cruise Line, Oceania und Regent Seven Seas immer noch auf knapp 10%. Allein diese drei in den USA domizilierten und börsennotierten Unternehmen beherrschen rund drei Viertel der globalen Cruise-Betten.

Auch die von der Familie Aponte kontrollierte und in Genf domizilierte MSC Cruises kommt inzwischen auf einen Marktanteil von ca. 10%; das Unternehmen betreibt zudem eine der grössten Containerflotten der Welt. Schliesslich der asiatische, an der Börse von Hongkong notierte Genting-Konzern, der mit den Marken Star Cruises, Dream Cruises und Crystal Cruises auf knapp 5% kommt. Die fünf grössten Cruise-Gesellschaften kommen somit kumuliert auf fast 90% der weltweiten Kapazitäten.

Keine Endzeit-Perspektiven

Solche Grossgebilde, die über Jahre, ja Jahrzehnte Milliarden-Umsätze und stolze Margen erzielten, aber auch in gigantische Flotten-Assets investierten, verfügen nicht nur über einige Reserven, sondern geniessen bei Banken und Anlegern auch den Status einer gewissen «Systemrelevanz». Es gelingt ihnen derzeit denn auch immer wieder an neues Geld zu kommen, das den «Cash-Burn» mindert. Einzig bei Genting zeichneten sich in den letzten Monaten Engpässe ab: Die deutschen MV-Werften, die Genting vor wenigen Jahren übernommen hat und dort ihre Neubauten fertigen lässt, halten sich derzeit gemäss Medienberichten nur noch mit einem Notkredit des Bundeslandes über Wasser.

Ansonsten beruhigen die Grossreedereien in ihren Quartalsberichten stets wieder, dass man dank Milliarden-schweren Finanzpolstern die Durststrecke noch monatelang durchstehen könne. So wies die Royal Caribbean Group per Ende September eine Liquidität von 3,7 Mrd. US-Dollar aus, dies bei einem monatlichen Cash-Burn zwischen 250 und 290 Mio. US-Dollar. Entlastend trägt da und dort die bereits früh eingeleitete, komplette Stilllegung einzelner Marken bei oder der Abbau von Assets: Carnival Corporation etwa hat sich inzwischen bereits von 18 älteren Schiffen ihrer zuvor über 100 Einheiten umfassenden Gesamtflotte verabschiedet.

Von spektakulären negativen Entwicklungen bei den dominierenden Marktführern ist, soweit derzeit einschätzbar, deshalb vorläufig nicht auszugehen. Ganz anders, und dies sei an dieser Stelle unterstrichen, sieht es aber bei Zulieferern, in Zielgebieten und vor allem auch bei der Bord-Staff aus, die zurück in ihren Heimatländern seit Monaten auf eine Wiederaufnahme des Lohnerwerbs warten muss.

Die wichtige Markt-Vielfalt

Und was ist mit dem «Rest der Industrie», den weiteren Anbietern? Bekannte Namen sind in Deutschland etwa Phoenix, Sea Cloud oder Plantours, in Frankreich Ponant, in Grossbritannien Saga, Marella oder Fred Olson, in Norwegen Hurtigruten und Seadream, in Griechenland Celestyal und Variety, zudem die monegassische Star Clippers oder die portugiesische Mystic. In den USA wiederum sind dies z.B. Disney Cruises, Windstar, Viking Ocean, Virgin Voyages oder American Cruise Line, in Australien Scenic. Zudem gibt es verschiedene kleinere und grössere spezialisierte Expeditionsanbieter, nicht zu vergessen einzelne lokal verankerte Anbieter.

Auch diese Gesellschaften sind oft in grössere Strukturen oder Holdings eingebettet. So gehört etwa Ponant zum französischen Luxuskonzern Artemis, Marella zur TUI Group oder Windstar zum US-Leisure-Riesen Xanterra/Anschutz, einige andere sind in Privatbesitz. Wie solche Unternehmen eine Krise, die sich noch monatelang hinziehen könnte, im Einzelfall meistern werden, ist schwierig abzusehen. Szenarien, die im schlechtesten Falle auf eine Betriebsschliessung oder einen Verkauf hinauslaufen, können aber nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Mit Blick auf die gesamte Cruise-Industrie gilt es anzumerken, dass all diese Player insgesamt auf einen Anteil von gut zehn Prozent an den Gesamtkapazitäten kommen. Dieser Hinweis soll in keiner Art und Weise schmälernd wirken – im Gegenteil: Gerade solche Anbieter sorgen für eine wichtige und bereichernde Markt-Vielfalt.

Blick in die Kristallkugel

Mehr als ein CEO einer grossen Reederei hat inzwischen hoffnungsfroh erklärt, dass man spätestens im Frühling/Sommer 2021 wieder mit der ganzen Flotte unterwegs sein werde. Laufend werden neue Programme geschustert und veröffentlicht – ob diese jedoch alle wie geplant zur Durchführung kommen, kann niemand garantieren. Nach wie vor und wohl noch auf einige Zeit hinaus bestimmt das Virus auch den Takt in der Cruise-Industrie. Erste Impfperspektiven hin oder her – vorläufig muss man sich weiterhin damit abfinden, mit Corona zu leben. Dass dies auf einem Cruiseliner mit strengen Covid-Massnahmen aber durchaus möglich ist, konnte ich inzwischen auf bereits drei Testfahrten unter neuen Voraussetzungen selber erfahren.

Sollte sich der Optimismus der CEOs tatsächlich erfüllen, dass Kreuzfahrten (wie Reisen generell) bis im nächsten Vorsommer massiv weniger Reise-Restriktionen unterliegen und von einem nachhaltigen Wiederaufschwung profitieren, dann stehen die Chancen gut, dass die Strukturen der Cruise-Industrie nach einer einjährigen, erzwungenen Pause kaum wesentlich anders aussehen werden als vor Corona. Wenn nicht, dann hat nicht nur die Kreuzfahrt ein kaum einschätzbares Problem.

(Beat Eichenberger)